In den Augen eines Mannes

Anaïs Nin ist nicht nur eine, sondern viele Frauen

Von Saskia SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Saskia Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Frau tanzt spanische Tänze in Pariser Salons, leidenschaftlich und sinnlich bewegt sie ihren Körper - und die Blicke der Männer heften sich auf sie und gehen mit. Der Blick der Frau jedoch geht nach innen, sie analysiert und fantasiert. Objekt ihrer radikalen Selbsterforschung ist diese Frau selbst. Die anderen Frauen, die sie sein könnte, zeigt ihr die Fantasie.

Als Anaïs Nin beginnt, spanische Tänze zu lernen, ist sie 24 Jahre alt und seit vier Jahren mit Hugh Guiler verheiratet, ihrem "humorvollen Bankier". Anaïs kümmert sich um die Wohnung, ziert ihren Gatten bei gesellschaftlichen Anlässen, schreibt Tagebuch und sucht die Hingabe an die Literatur. Ihren "Kater", wie sie Hugh zärtlich nennt, liebt und verehrt sie. Seine Liebe nennt sie die "Triebfeder" ihres Lebens.

Seit ihrem elften Lebensjahr vertraut sie ihrem Tagebuch Gedanken und Geheimnisse an und so wird es - im Gegensatz zu ihrem Ehemann - Zeuge der Veränderung Anaïs Nins. Mit zunehmender körperlicher Sensibilität und der Sehnsucht nach intellektueller und künstlerischer Gesellschaft wächst ihr Verlangen, mehr zu sein: "Ich habe die Macht, mich zu vervielfachen. Ich bin nicht eine Frau. Er [Hugh] hat den größeren Anteil von mir. Ich bin nie so verschwenderisch bei jemandem gewesen wie bei ihm." Als sie merkt, dass Hugh nur einen Teil ihrer Energie, ihrer Liebe und ihrer Aufopferung benötigt, um glücklich zu sein, fürchtet sie, dass das Übrige verloren geht.

Eine ihrer Tätigkeiten ist Modellsitzen, doch dies und ihre Tänze sind ihrer Mutter und ihrem Bruder Anlass zu Tadel. Anaïs ist gekränkt. Sie will den Künsten, den Künstlern dienen und sieht darin nichts Anstößiges. Am liebsten wäre sie selbst Schriftstellerin. Das Tagebuch zeigt Anaïs Nins enormes kreatives und literarisches Potential. Die Tiefe ihrer Reflexionen und ihres Empfindens ist enorm, die Überschwenglichkeit ihrer Sätze reißt mit. Ihre Sprache ist poetisch und driftet nur selten ins Kitschige ab. Sie schreibt zwar auch Geschichten und plant Romane, doch ihr Mann sagt weise voraus: "Deine Geschichte ist gut, doch nichts im Vergleich zu deinem Tagebuch. Ich glaube wirklich, in dieser Form hast du Vollkommenheit erreicht, und du wirst nie etwas anderes machen. Das wird dein Lebenswerk werden."

Zu ihrem Leben als Frau zählt Anaïs Nin immer mehr Bewunderung, Begehren und Liebe. Dies alles vervollständige sie. Im Oktober 1928 schreibt sie: "Ich lebe nun nicht mehr nur mit meinem Kopf, sondern mit meinem ganzen Selbst, einem allzu sensiblen und so lang verleugneten Selbst, sensibel bis in die Fingerspitzen, vibrierend, überschwenglich, unbeherrschbar. [...] Vorher bot ich nur die kalten Strahlen meiner Gedanken dar; jetzt biete ich mein brennendes Fleisch und mein wallendes Blut dar. Ich bin eine Frau." Zu dieser Zeit weiß sie noch nicht, dass ihr brennendes Fleisch und ihre Verehrung des Schriftstellers John Erskine sie im Mai 1929 dazu treiben wird, eine kurze Affäre mit ihm einzugehen. Sie weiß noch nicht, aber sie ahnt es, dass ihr das scheinbar perfekte Leben mit dem Mann, den sie über alles vergöttert und liebt, nicht mehr genügen wird - und dass sie viele Leben leben wird: "Frauen sehen sich wie in einem Spiegel in den Augen von Männern, die sie lieben. Ich habe in jedem Mann eine andere Frau gesehen - und ein anderes Leben."

Titelbild

Anaïs Nin: Ich suche das Leben. Die frühen Tagebücher 1927-1929.
Nymphenburger Verlagsanstalt, München 1999.
400 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3485008230

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