Es lebe die herrliche Bestie

Anne Martina Emonts’ Annäherung an Mechtilde Lichnowskys „Sprachlust und Sprachkritik“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zurecht haben feministische Literaturwissenschaftlerinnen seit den 1970er-Jahren wiederholt darüber geklagt, dass Schriftstellerinnen von Literaturgeschichtsschreibung und -wissenschaft nicht angemessen berücksichtigt, sondern vielmehr marginalisiert, wenn nicht gar völlig vergessen werden. Dass sich die Lage in den letzten Jahrzehnten doch um einiges verbessert hat, ist eben diesen Wissenschaftlerinnen selbst zu verdanken. So kam es etwa „im Fall Mechtilde Lichnowsky“ keineswegs „zu einem so restlosen Vergessen“, wie Anne Martina Emonts eingangs ihrer Dissertation behauptet. Immerhin wird die Literatin und Essayistin nicht nur in frauenspezifischen Lexika wie dem von Gisela Brinker-Gabler, Karola Ludwig und Angela Wölfen herausgegebenen „Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800-1945“ (1986) oder Renate Walls „Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933-1945“ (1995) genannt, sondern ist mit den Werken „Delaïde“ und „Geburt“ in „Kindlers neuem Literaturlexikon“ und somit an prominentestem Ort vertreten. Dass sie in der neueren Forschung ebenfalls nicht „restlos vergessen“ ist, zeigt Christine Kanz’ Aufsatz „Geschlecht und Psyche in der Zeit des Expressionismus“ aus dem Jahr 2001, in dem sie die Literatin unter der Zwischenüberschrift „‚Spinnwebartige seelische Details‘ bei Lichnowsky“ behandelt. Auch Regina Ullmann, eine nach Emonts „weitere gründlich Vergessene“ wird in dem Aufsatz von Kanz gewürdigt.

Schließlich nennt Emonts im Laufe ihrer Untersuchung sogar selbst eine ganze Reihe Literaturgeschichten und Lexika, in denen die Literatin und Sprachkritikerin erwähnt wird. So relativiert sie denn auch die Behauptung, Lichnowsky sei „restlos vergessen“, hundert Seiten später dahingehend, sie sei „heute fast vollkommen in Vergessenheit geraten“, und konstatiert erfreut, dass „die feministische Forschung die Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky endlich für sich wahrgenommen hat“. Allerdings moniert sie zugleich, dass „die einseitig feministische Perspektive“ der Schriftstellerin „nicht ganz gerecht werden“ könne.

Emonts’ Dissertation fasst zwar nicht zuletzt „das Geschlechterthema“ ins Auge, doch fühlt sie sich dem Feminismus nicht weiter verbunden. Auch ist ihre Arbeit keineswegs „einer ausschließlich literaturwissenschaftlichen Methodik verpflichtet“. Vielmehr nimmt sie ihr Thema aus einer „breitere[n] kulturwissenschaftliche[n] Perspektive“ in den Blick. Dabei konzentriert sie sich neben dem Geschlechterthema auf poetologische Fragen und Sprachkritik, da diese die Bedeutung von Lichnowskys Œuvre für die deutschsprachige Literatur- und Kulturgeschichte am besten verdeutlichten.

Auch der „phallogische Diskurs“ sei „in seiner klaren, hierarchischen Methodik und Stringenz nur bedingt fähig, den transgressiven Diskurs einer Lichnowsky mit seinem wissenschaftlichen Handwerkszeug zu beschreiben und dem Gegenstand gerecht zu werden“, wie sie etwas missverständlich formuliert. Denn gemeint ist offenbar, dass der phallogische Diskurs mit seinem aus hierarchischer Methodik und Stringenz bestehenden wissenschaftlichen Handwerkszeug nur bedingt in der Lage sei, Lichnowskys transgressiven Diskurs zu beschreiben.

Da es sich bei der vorliegenden Arbeit aber um eine Dissertationsschrift handelt und sich ihre Autorin daher „in ein traditionelles Universitätssystem und die noch nicht feminisierte Wissenschaft eingebunden“ weiß, fühlte sie sich genötigt, sich eben der Instrumente zu bedienen, die der Werkzeugkasten des als ungenügend eingeschätzten phallogischen Diskurses zu bieten hat. Diese Notwendigkeit habe dazu geführt, dass sie „an Grenzen gestoßen“ sei, „die nicht unbedingt meine oder die der Mechtilde Lichnowsky sind“, versichert die Autorin. Eine allzu bequeme Argumentation, deren Funktion vor allem darin besteht, sich eventuelle Schwächen der Arbeit nicht etwa selbst zuschreiben lassen zu müssen, sondern sie dem universitären phallogischen Wissenschaftssystem anlasten zu können.

Nach den „[m]ethodologischen Vorbemerkungen“ ist das Buch in vier Hauptteile gegliedert, deren erster der Rezeption Lichnowskys gilt und mit rund 100 Seiten keine geringe Fleißarbeit darstellt, die zudem mit manch interessanter Rezension bekannter wie unbekannter AutorInnen aufwarten kann. Insbesondere für diesen Teil trifft Emonts’ Anspruch zu, „zahlreiche nicht veröffentlichte und zum Teil unbekannte Dokumente“ aufgefunden, herangezogen und analysiert zu haben.

Doch auch Lichnowskys eigene Werke haben keine einfache Überlieferungsgeschichte. So hat sie ihre in den 1930er-Jahren und zu Beginn der 1940er-Jahre verfassten und teilweise recht umfangreichen Schriften „versteck[en], vergraben, ein[…]mauer[n]“ müssen, damit sie den Nazis nicht in die Hände fielen. Damit entgingen diese zwar der Vernichtung, doch sind sie heute „zum größten Teil nur als unveröffentlichter Nachlaß erhalten“. Lichnowskys bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung erschienene Bücher wurden allerdings erst 1941 auf die berüchtigte „Liste des schändlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt.

Wie Emonts zeigt, wurde bei der (professionellen) Lektüre von Lichnowskys literarischen und essayistischen Werken meist „ihre gesellschaftliche Herkunft aus dem Hochadel mit[gelesen]“. „Schlimmer noch“, findet sie allerdings zurecht, dass „fast alle Kritiken“ das weibliche Geschlecht der Literatin hervorheben. „Warum“, fragt Emonts eher rhetorisch, „können die ‚herrenhaften‘ Kritiker männlichen Geschlechts von dem biologischen Geschlecht der Autorin nicht abstrahieren“, wobei anzumerken ist, dass etliche der von ihr zitierten Kritikerinnen ebenfalls außer Stande zu sein scheinen, davon abzusehen, dass Lichnowsky eine Frau war.

Die drei an den rezeptionsgeschichtlichen Teil anschießenden Abschnitte nehmen je einen zentralen Aspekt von Lichnowskys Werk unter die Lupe: den „ästhetisch-poetologische[n]“, den „sogenannte[n] inhaltliche[n]“ und schließlich den „sprachkritische[n]“. Im ersten dieser drei Teile betont Emonts wiederholt, dass Lichnowsky „keine Schriftstellerin des Expressionismus“ sei. Zutreffender wäre wohl zu sagen, dass sie nicht nur eine solche ist. Und auch Emonts gesteht zumindest Lichnowskys „Herkunft aus dem expressionistischen Umfeld“ zu. Doch habe sie bereits in ihren „frühesten Prosatexten“ literarische Verfahren benutzt, die dem von Emonts vorgeschlagenen Begriff des Modernismus zuzurechnen seien. So zeichne sich Lichnowskys „wohlkomponierte Modernität“ durch eine „synästhetische, ja sinnliche Schreibweise“ aus. Letztlich sei die Literatin und Sprachkritikerin schon von Beginn an eine „frei zwischen den Stilen“ schwebende „Modernistin“ gewesen, deren Texte „unbequem, spitzfindig und nur der literarischen Elite, die keine sprachlichen Fehler macht, ein reines Vergnügen“ seien.

Zwar unterzieht Emonts eine ganze Reihe von Lichnowskys literarischen und essayistischen Werken einer näheren Analyse, im Zentrum steht jedoch immer wieder das von der Autorin besonders geschätzte sprachkritische Buch „Der Kampf mit dem Fachmann“, in dem Lichnowsky „ihr eigentliches Thema, die Möglichkeit sprachlicher Darstellung“, „spielerisch“ angehe und das „unglaubliche Gewäsch, das ungestraft in allen zu dieser Zeit denkbaren Medien verbreitet wird“, kritisiere.

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, nennt die Autorin Lichnowsky in einem Atemzug mit einem der prominentesten Sprachphilosophen überhaupt: Ludwig Wittgenstein, dessen Methodologie Lichnowsky auf „augenzwinkernde, humorvolle“ Weise vorweggenommen habe. Mehr noch: „Soweit wie Mechtilde Lichnowsky geht, ist selbst Ludwig Wittgenstein nicht gekommen.“ Auch habe sich Lichnowsky „sehr ernsthaft“ mit Romantheorie befasst und sei auf diesem Gebiet ebenfalls „nicht nur auf der Höhe ihrer Zeit, sondern ihr voraus“ gewesen.

Im letzten der drei Teile legt Emonts dar, dass und wie Lichnowsky poetologische Fragen sprachkritisch löste und dabei „ästhetische Theorie mit der Analyse gebräuchlicher Alltagssprache“ verband. Die Sprache, die Lichnowsky als „herrliche lebende Bestie“ pries, lasse die Schriftstellerin auf den Logos treffen, der sie voller Respekt zähme.

Ebenso dreigeteilt ist der mittlere der den drei Aspekten gewidmete Abschnitt, der sich mit drei „wiederkehrende[n] Motive[n]“ in Lichnowskys Texten befasst: Tieren, autobiografischen Anklängen und schließlich der Geschlechterfrage, die Emonts am ausführlichsten behandelt. Die „Komplexität“ letzterer werde von Lichnowsky, die ihre „Leiden an ihrem Frau-Sein-Müssen“ immer wieder geäußert habe, „klar formuliert: Man kann nicht das ganze Leben lang Frau oder Mann bleiben. Das sind Rollen, die man, jede zu ihrer Zeit, spielen muß“. Eine überaus aktuelle Auffassung, mit der Lichnowsky ihrer Zeit weiter voraus war, als dies in Sachen Romantheorie der Fall gewesen sein mag. Wie die Einsicht in den Rollencharakter von Geschlechtlichkeit allerdings damit zu vereinbaren ist, dass Lichnowsky zugleich von der „Angeborenheit des fundamentalen Kontrastes zwischen Mann und Frau“ überzeugt war, ist nicht ohne weiteres einzusehen.

Was nun die Sprache betrifft, so erklärte Lichnowsky, dass ein „anständig gebauter Satz […] nichts mit dem Geschlecht zu tun“ habe. Emonts konstatiert sicherlich zurecht, „Begriffe wie ‚weibliche Schreibweise‘ wären der Autorin schon um 1910 ein Graus, ja ein ‚Urgraus’ gewesen“. Auch in diesem Punkt ist Lichnowsky ihrer Zeit voraus und lässt sogar die ihr nachfolgende feministische Literaturtheorie der 1970er-Jahre hinter sich.

Dabei war ihr laut Emonts „jeglicher Feminismus verhasst.“ Auch gab sie ihrem, wie Emonts schreibt, „handfeste[n] Frauenhaß“ immer wieder unverhohlen Ausdruck. Dafür, dass „die Entmenschlichung der Frauen durch das männliche Machtmonopol nicht nur geschaffen, sondern gezielt perpetuiert wird“, ist Lichnowsky Emonts zufolge blind gewesen.

Allerdings sei Lichnowsky der feministischen Literaturwissenschaft vor allem aus einem anderen Grund „verdächtig“: Sie sei „dem Glauben an die Existenz eines übergeschlechtlichen, geistigen Adels zeitlebens verpflichtet geblieben“. Dies passe schlecht zu einer feministischen Literaturwissenschaft, „die den literarischen Kanon ihren eigenen Ansprüchen gemäß erweitern möchte und sich neuerdings sogar fragt, ob ‚Frau‘ nicht einen eigenen weiblichen Literaturkanon erstellen müsse“ (Hervorhebung R.L.). Damit erweist sich Emonts in Sachen feministischer Literaturtheorie nicht auf der Höhe der Zeit. Denn diese erhob das Vorhaben eines eigenen ‚weiblichen’ Kanons zwar in den 1970er-Jahren, stellt es jedoch bereits seit einigen Jahrzehnten wieder in Frage.

Jedenfalls ist es Emonts zufolge „nicht leicht“, Lichnowsky „für den Feminismus zu vereinnahmen“, wie sie etwa merkwürdig formuliert, konnotiert der Begriff der Vereinnahmung doch immer eine unrechtmäßige Aneignung. Merkwürdig ist Emonts’ Wendung vor allem auch, weil sie selbst darlegt, wie Lichnowsky „für die feministische Literaturgeschichtsschreibung [zu] retten“ sei, indem nämlich „akzeptiert“ werde, „daß sie vor allem ex negativo agiert, vor allem den Finger auf die Wunde legt, die sich Frauen selbst zugefügt haben und zufügen“. Doch sind Emonts’ Darlegungen in dieser Frage nicht widerspruchsfrei. So sagt sie einerseits, die „negativen Weiblichkeitsentwürfe“ der Literatin forderten „indirekt dazu auf, diesen positive Weiblichkeitsentwürfe entgegenzustellen“. Letztere seien bei Lichnowsky selbst „wenn überhaupt vorhanden, viril geprägt“. Andererseits konstatiert sie, dass Lichnowsky „nur gegen die submissive kleine Frau’ polemisiert und ihre Texte in Wirklichkeit voll von attraktiven Frauengestalten sind“.

Insgesamt propagiere die Literatin „die Kollaboration von verschiedenen Kräften, die verschieden sein müssen, um zu funktionieren, nicht […] den Geschlechterkampf“. Somit vertrete sie eine Position des „radikalen Differentialismus“, dem auch heute noch „ein beachtlicher Anteil der Feministinnen anhängt“. Das ist gleich in mehrfacher Hinsicht unzutreffend. Zum einen spielt der Differenzfeminismus heutzutage unter FeministInnen allenfalls noch eine marginale Rolle, vor allem aber vertritt beziehungsweise vertraten zahlreiche seiner Anhängerinnen nicht einfach die Kollaboration der Geschlechter, sondern sahen in den Frauen oft das bessere Geschlecht und verfochten zum Teil sogar separatistische Ziele.

Mit der feministischen Literaturwissenschaft und Theorie steht die Autorin ebenfalls nicht immer auf sonderlich gutem Fuß. Zwar spricht sie oft ganz allgemein von Feminismus, doch kann sich ihre antifeministische Kritik sinnvoller Weise tatsächlich oft nur auf Feminismen der 1970er-, vielleicht 80er-Jahre beziehen. So etwa, wenn sie erklärt, die „feministische Forschung“ nehme Ricarda Huch und Annette Kolb „nur begrenzt“ war, da beide Autorinnen „eine literarische und methodische Glorifizierung der weiblichen Opferrolle ab[lehnen]“. Tatsächlich haben diskursanalytische und poststrukturalistische Feminismen schon vor geraumer Zeit mit früheren Vorstellungen einer universellen oder auch nur primären ‚weiblichen Opferrolle‘ aufgeräumt.

Und auch historisch stimmt bei Emonts in Sachen Frauenbewegung nicht immer alles. So behauptet sie etwa, die „feministischen Pazifisten“ seien „gerade vor dem großen Krieg aktiv“ gewesen, also vor dem Ersten Weltkrieg. Zwar nennt sie keine Namen, doch waren die groß(artig)en feministischen Pazifistinnen Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg sowohl vor, während und auch nach dem „Großen Krieg“ aktiv. Vor dem Krieg als führende Theoretikerinnen und Aktivistinnen des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung, während des Krieges vornehmlich als internationale Pazifistinnen und nach dem Krieg als Feministinnen, Pazifistinnen und Nazi-Gegnerinnen. Oder sollte das von Emonts verwandte Maskulinum „Pazifisten“ tatsächlich nur Männer meinen? An wen mag die Autorin dann aber gedacht haben?

Ungeachtet der Schwächen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Feminismus offenbaren und einiger hagiografischen Anwandlungen hat Emonts ein Buch vorgelegt ,,das etliche wertvolle Erkenntnissen zu bieten hat, womöglich ein wenig zu einer sicherlich nicht ganz ungerechtfertigten Kanonisierung der Literatin beitragen kann und insgesamt das Zeug zum Standartwerk hat. Emonts Neigung, Lichnowsky in verschiedener Hinsicht zu überschätzen, mag eine verständliche Reaktion auf die bis heute weithin anhaltende und eklatante Unterschätzung der Schriftstellerin sein. Dass Emonts in ihrem literarischen Urteil allerdings nicht immer zu vertrauen ist, zeigt sich etwa darin, dass sie Margarete Böhmes „Tagebuch einer Verlorenen“ (1905) kurzerhand als „kitschige[n] Soft-Porno“ abtut.

Titelbild

Anne Martina Emonts: Mechtilde Lichnowsky - Sprachlust und Sprachkritik. Annäherung an ein Kulturphänomen.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
562 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826039126

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