Der Derwisch wütet nicht

Serdar Somuncus neues Buch „Der Antitürke“ bedient sich ungewohnt leiser Töne

Von Martin SpießRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Spieß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man sagte, Serdar Somuncu habe mit seinen Auftritten für Aufmerksamkeit gesorgt, so wäre das schamlose Untertreibung. Mit seinen Bühnenprogrammen hat der deutsch-türkische Kabarettist, einem Derwisch gleich, sich gleichermaßen an die Öffentlichkeit gewirbelt wie dem Zuschauer die eigene Doppelmoral vor Augen gehalten. Ob nun Parforceritte durch die deutsche Vergangenheit (Lesungen aus „Mein Kampf“ und Joseph Goebbels’ „Sportpalastrede“) oder schonungslose Analysen des Verhältnisses zwischen Deutschen und Türken (seine Programme „Hitler Kebab“ und „Der Hassprediger liest BILD“) – Somuncu schafft es stets, das auszusprechen, von dem er glaubt, dass es die Zuschauer sowieso denken, es sich aber nicht zu sagen trauen. Somuncu versucht damit das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit sowie zwischen Deutschen und Türken zu entkrampfen.

In seinem neuesten Buch „Der Antitürke“ geht es dagegen vergleichsweise still zu. Somuncu tauscht die Axt gegen das Skalpell: Die Auseinandersetzung mit dem deutsch-türkischen Verhältnis – denn darum geht es im Buch – geschieht weniger durch die auf der Bühne dargestellte Intoleranz. Der Autor analysiert die Vorurteile beider Seiten: Er geht auf die türkische Geschichte ein und zählt auf, was die Deutschen für sich beanspruchen, was ursprünglich jedoch der türkischen Kultur entstammt. Dabei geht es Somuncu nicht darum, auf die Großartigkeit türkischer Kultur hinzuweisen, sondern vielmehr darum, die Gemeinsamkeiten deutscher und türkischer Kultur aufzuzeigen. Wenn sowohl Deutsche als auch Türken erkennen würden, dass sie mehr verbindet als trennt, wäre ein großer Schritt zur Verständigung getan. Das bedeutet für Somuncu allerdings auch, dass die Türken sich von ihren falschen Vorstellungen verabschieden: dass türkische Mädchen Kopftücher und gleichzeitig String-Tangas tragen ist für Somuncu unverständlich. Nicht nur, dass sie die Errungenschaften ihrer Mütter verraten, indem sie wieder Kopftücher tragen. Sie meinen es außerdem nicht ernst mit dem Kopftuch wenn sie zur gleichen Zeit einen String-Tanga tragen.

Weil Serdar Somuncu mit seiner Botschaft nicht so, wie er es gern sehen würde, zu den Menschen durchdringt, verlässt er die Bühne im Jahr 2010. Vielleicht ist er zu frustriert, dass die Zuschauer nicht hinter die Rollen geschaut haben, die er in seinen hasserfüllten Bühnenprogrammen gespielt hat. Und vielleicht ist die hass- und intoleranzlose Annäherung an sein Publikum der letzte Versuch, doch noch etwas zu bewirken. Leise an die Menschen heranzutreten und ihnen zu erklären, was sie durch die gewaltige Bühnenperformanz nicht nachzuvollziehen im Stande waren. Das Buch jedoch lässt genau diese forsche Seite Somuncus vermissen. All dem Wissen um die Wurzeln und Gemeinsamkeiten Deutschlands und der Türkei, das Somuncu dem Leser vermittelt, fehlt das performative Moment. Es fehlt der Derwisch, das ungebremste Ungeheuer, das die Köpfe und Herzen der Zuschauer gleichermaßen gefangen nimmt. Dennoch ist „Der Antitürke“ ein wichtiges Buch: nicht, weil es dem Leser ein Wissen vermittelt, dass er ohne Buch nicht hätte. Sondern weil es ihm vor Augen führt, welches Wissen er haben müsste. Aus eigenem Antrieb, auch ohne Buch. Soviel ist sicher: Die gewaltige, tiefblickende, ja, weise Stimme Serdar Somuncus wird fehlen.

Titelbild

Serdar Somuncu: Der Antitürke.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.
152 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783499625107

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch