Gedichte als Spachtelmasse der Selbsterkenntnis
Über André Rudolphs Lyrik-Experiment „fluglärm über den palästen unserer restinnerlichkeit“
Von Thorsten Schulte
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist keine leichte Kost, die André Rudolph mit seinem Gedichtband „fluglärm über den palästen unserer restinnerlichkeit“ vorlegt: Er will den „Fließtext […] aus der Lesbarkeit“ befreien. Die enigmatischen Gedichte des „Schmetterlingssäge.doc“-Zyklus, dem Kern des Buches, bestehen aus abwechselnd eingerückten und links gebundenen Versen, die das Hin und Her einer Säge abbilden. Das Auge springt von links nach rechts. Gleichzeitig springen die Gedanken, Assoziationen, Zeilen, Verse. Diese Bewegung hat aber auch einen Anfang und ein Ende, so dass man normalerweise wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen wird. Doch den Gedichten André Rudolphs fehlt eine solche kausal-logische, streng finale Argumentationsführung. Und da man über Kommas leichter springt als über Klammern, fügt der Dichter immer wieder Hinweise, Ideen oder einfach nur sinnlose Fragmente in Klammern ein.
So taumelt der Leser zwischen Vergleichen („wie ein sanfter mann“, „wie fischreiher“) und Wortinventionen („regenkommando“, „amselgeschosse“, „buntmetallglück“) und findet keinen Halt – Groß- und Kleinschreibung sind außer Kraft gesetzt, manch ein Kommentar wird kursiv oder in anderer Schriftgröße scheinbar wahllos zwischen Wörter gesetzt. Der Boden wird nie mehr erreicht, der Übergang vom Sprung in den freien Fall der Sinnlosigkeit geschieht unwillkürlich.
Die Gedichte leben nicht von der unmittelbaren, sondern der mittelbaren Erkenntnis. Denn leere Räume werden vom Leser mit seiner eigenen Phantasie gefüllt. Sinneseindrücke wie Farben und Geräusche, deren Ursprünge nicht genannt werden, müssen mit Erinnerungen verbunden werden, damit Erkenntnis möglich wird. Es entstehen Momentaufnahmen eines Durchschnittslebens, die zusammengeschoben werden. Spießbürgerliche Arbeitswelten, Surfen auf pornografischen Websites („feuchtes lippenrot (im dünnen kleidchen)“), Mütter mit Kinderwagen – und Rudolph ruft dem Leser verwirrend nuanciert zu: „die spachtelmasse deiner selbsterkenntnis / härtet aus“.
„meine gedichte sind wie zähne und hochhäuser: sanierte gebilde“, heißt es im letzten Gedicht, das doch nur noch aus Notizfetzen besteht („Schattenarbeit“), mit Witz. Doch die Sammlung hinterlässt mehr als dieses ironische Grinsen, das Rudolph an den Schluss stellt. Seine Gedichte sind performative Gedanken, die ihren so anspielungsreichen wie verschwiegenen Weg ins Unbesprochene gehen. Das Ergebnis eines Prozesses der Erkenntnis ist im Idealfall Wissen. Welchen Weg der Leser nimmt und ob sich auf der Grundlage aufregender Bilder und wortgewandter Leere auch Sinn und nicht zuletzt freudige Leselust einstellen, das ist die spannende Frage, die nur beantwortet werden kann, indem das Experiment selbst vom Leser begonnen wird.
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