Zwei Präludien

Zu Erstveröffentlichungen von frühen Erzählungen Heimito von Doderers

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn seiner Laufbahn als Schriftsteller zielte Heimito von Doderer auf eine Erneuerung der Literatur durch die Musik. Im Mit- und Gegeneinander der Motive, in ihrer Verschränkung und wechselseitigen Entwicklung sollte eine artistische Geschlossenheit erreicht werden, die das bloße epische Nacheinander des Realismus übertreffen und eine nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch die Form legitimierte Entwicklung hervorbringen würde.

Wichtigstes Resultat sind sechs zwischen 1924 und 1926 entstandene „Divertimenti“, die überwiegend erst 1972, also nach Doderers Tod publiziert wurden. Verglichen mit Sonate oder Fuge handelt es sich musikalisch um eine locker gefügte Form, doch vermag Doderer mit seinem Ansatz tatsächlich einen auch sprachlich dicht gestalteten, bezwingenden Verlauf zu konstruieren, der auch dann zu faszinieren vermag, wenn man sich fragt, ob der Inhalt den Aufwand lohnt.

Das Problem stellt sich noch schärfer bei „Seraphica“, einer Erzählung über das Leben des Franz von Assisi, die nun erstveröffentlicht und, wie Martin Brinkmann in einem erhellenden Nachwort aufzeigt, gleichfalls musikalisch geformt ist. „Seraphica“ ist wohl, wie Brinkmann aus Doderers Tagebuch zitiert, tatsächlich etwas wie „eine Komposition für Orgel“ geworden, „in der 4-Satz-Form komponiert, mit Motivik, etc.“ Doch ungeachtet dessen, dass Doderer auch von „Durchführung“ spricht, ist der Text gerade formal zwiespältig.

Doderers Franz von Assisi führt ein prachtvolles weltliches Leben, bis ihn zuweilen das Gefühl des Vergeblichen überkommt. So wird er zu seinem eigentlichen Wesen geführt, zu Armut und heiliger Demut. Es geht hier also um ein Thema, das Doderers Werk durchzieht: Von der Erkenntnis des kümmerlichen Selbst, wie sie der Held von „Ein Mord, den jeder begeht“ (1938) vollziehen muss, bis zu den exemplarisch gelingenden Lebenswegen im Hauptwerk „Die Dämonen“ (1956).

In „Seraphica“ findet der Held sein Eigentliches indessen schon im ersten der vier Teile oder, musikalisch formuliert: Sätze. Er sammelt gleichgesinnte Brüder um sich, und der Abschluss der Exposition ist durch ein „noch“ relativiert: „Noch stand die Bruderschaft in vollem Leben, nicht nur im Kerne glühend, auch in allen Gliedern: noch lebte Franziscus, und er lebte in jedem Bruder.“ Was sich damit als Gegenthema andeutet: Die künftige Institutionalisierung des Absoluten in der Gründung des Franziskaner-Ordens, das klingt in den folgenden Teilen zwar immer wieder durch. Insofern am Ende der ungefährdete Triumph der Helden steht, hat jedoch die Durchführung keinen Fortschritt gebracht, sondern lediglich die Setzung bestätigt.

Das Heilige kann in unheiliger Zeit – also immer – nur ideologische Funktion haben. Es sperrt sich der musikalischen oder literarischen Entwicklung; es ist eben nur jenseits der Geschichte da, ob nun geachtet oder verachtet. Der altertümelnde Legendenton, in den Doderer in „Seraphica“ zuweilen verfällt, stellt die ästhetische und ideologische Problematik heraus: Die Legende kennt eben keinen Fortschritt durch Konflikt, sondern nur Setzung eines Übermenschlichen. Sie sperrt sich einer quasi-musikalischen Durchführung, wie sie in der Symphonie von Haydn bis Schostakowitsch einem geschichtsphilosophisch fundierten Glauben an einen historischen Fortschritt entspricht. So hoch der Grad sprachlicher Verdichtung auch ist, den Doderer in seiner Erzählung von 1924 erreicht, so begeisternd zumal die Schilderung der Landschaft von Assisi ist: Er scheitert daran, dass das Heilige mit modernen Formen nicht zu fassen ist. Gerade in diesem Scheitern aber erhellt der Text grundlegende Ambivalenzen von Doderers Werk.

Wie sehr die frühen Ansätze ins spätere Werk reichen, verdeutlicht die andere, weitaus kürzere Erzählung in vorliegendem Band. Aus heutiger, allzu teleologischer Sicht wirkt „Montefal“ (1922) wie eine Vorform des 1936 verfassten und 1953 publizierten Kurzromans „Das letzte Abenteuer“. Ist die Geschichte des Heiligen die einer unproblematischen Selbstfindung, so wird hier, wie in der späteren Version, ein äußeres und mehr noch inneres Scheitern erzählt. Der Ritter Ruy de Fanez durchquert nach mannigfachen Abenteuern einen riesigen Wald und schlägt dem dort hausenden Drachen ein Horn ab, was ihn berechtigt, die Königin zu heiraten. Doch ist die Märchenwelt gebrochen. Nicht nur wartet statt einer als Preis lockenden Prinzessin eine Witwe auf den Helden – der Held selbst vermag sich trotz beiderseitiger Zuneigung nicht zu einem Antrag entscheiden. Bevor die Lage unhaltbar wird, trifft ein grober Ritter ein, der behauptet, den Drachen getötet zu haben, und Anspruch auf Ehe und Krone erhebt. Ruy de Fanez verabschiedet sich, nicht weil er vom freien Umherziehen überzeugt wäre, sondern weil so die Wahl für ihn getroffen wurde. Wie sich Franz von Assisi für sein eigentliches Sein entscheidet, so ist für de Fanez klar, dass jede Variante vor allem einen Verlust bedeutet, weil danach das Verlorene umso verlockender erscheint.

Beide Hauptfiguren altern und sterben früh, doch der Heilige verklärt und mit Nachruhm, der Ritter in einem verzweifelten Kampf gegen Räuber, der eher einem Selbstmord gleichkommt. Man kann aber nun fragen, ob nicht auch de Fanez sein Eigentliches gefunden hat – das darin bestände, heimatlos zu bleiben und jedes Glück zu verlieren.

In beiden Erzählungen sind Themen angeschlagen, die Doderers große Romane durchziehen werden. Konzeptionell überzeugt die depressive Rittererzählung mehr als die etwas spätere Heiligenlegende, die blinde Motive aufweist, wie sie Doderer später zu vermeiden wusste.

Das Nachwort informiert gut, die Textgestalt hingegen mag man bezweifeln. Dass, wie eine editorische Notiz angibt, „lautlich nicht relevante Schreibungen“ wie „Leichnam“ statt „Leichnahm“ angeglichen wurden, ist hinzunehmen. Wenn hingegen „Kommata, deren Fehlen den Lesefluß hätte erschweren können, ergänzt“ wurden, ist das besonders bei einer musikalisch, also auch rhythmisch bestimmten Prosa problematisch. Dennoch bringt die Edition eine wichtige Ergänzung zu Doderers Werk.

Titelbild

Heimito von Doderer: Seraphica (Franziscus von Assisi). Montefal (Eine avanture). Zwei Erzählungen aus dem Nachlaß.
Herausgegeben von Martin Brinkmann und Gerald Sommer.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
110 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783406584664

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