Das Babuschka-Prinzip

Die verschachtelte Geliebte eines Kartographen

Von Doris KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Klein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spontini läuft durch die nächtlich dunkle Stadt. Seine Gedanken kreisen um ein Verbrechen, das er zwar begangen, das er jedoch weder gewollt noch geplant hat. Wäre es anders gekommen, wenn er ihren Warnungen mehr Bedeutung geschenkt hätte? Wieder sieht er die Klinge, das weiße Fleisch, Blut an seinen Händen. Träfe er jetzt einen von ihnen hier, inmitten dieser Nacht, er wüßte, was er ihm zu sagen hätte, längst gesagt hätte, wenn sie ihm nicht immer wieder entschlüpft wären: Hier hört die Geschichte auf. Hier hört die Geschichte auf. Spontini ist auf der Flucht, verfolgt von jenen, die danach trachten, ihn weiterzuschreiben, zu korrigieren, seine Gedanken umzuschreiben, sie neu zu formulieren. Vor jenen, die ihm dieses Verbrechen auf den Leib geschrieben und ihn dann alleingelassen haben. Spontini ist auf der Flucht vor den Autoren, die ihn erfunden haben; er wünscht sich nichts mehr, als daß die Geschichte aufhöre - und er endlich sein eigenes Leben leben darf.

Die Geschichte ist schnell erzählt und doch verzwickt. Sie beginnt wie tausend andere Geschichten mit einem Prinzen. Und mit einer tragischen Liebe. Um sich, seiner Ex-Geliebten Margarete und zukünftigen Liebschaften ein Denkmal zu setzen, erfindet der Prinz Städte; Margaretenstadt zunächst, später Reinstadt. Doch nicht nur die Stadt selbst: Es gibt Karten und Pläne für jede Sekunde in jedem Haus und jeder Kammer, für jeden Bewohner, jeden Besucher, für eines jeden Zukunft und Vergangenheit, selbst der "Laubhaufen, der bald fortgeweht" wird, ist verzeichnet.

Ein gewaltiger Planungsstab muß dafür beschäftigt werden: Geographen, Architekten, Illustratoren und Beschrifter, Straßen- und Verkehrsplaner, eine Dienststelle für Anekdoten mit einem Index für beiläufige Bemerkungen, ein Portraitbüro, Bibliotheken zur Aufbewahrung der erfundenen Literatur und der Literatur über erfundene Autoren. Eine Kartographie- und eine Biographiesektion haben die Aufgabe, die Bürger und Besucher Rreinstadts zu erfinden und zu verorten, ihre Erinnerungen, Träume und Empfindungen, ihr Leben und ihren Tod. Und es gibt Schenck, zunächst Buchhalter und verantwortlich für die Gehälter der imaginären Bewohner Rreinstadts, später versetzt ins Kartographiebüro. Schenck begehrt Estrella und wird versehentlich zum Erfinder des Pfitz, Diener des Grafen Zelneck, der wiederum Erfindung ist eines fünfköpfigen Autorenkomitees der Literatursektion - mehr noch der Biographin Estrella. Sie alle gehören zu einem unkontrolliert sich fortzeugenden Figureninventar. Am Ende laufen die Protagonisten ihren Autoren davon und ihren Biographien hinterher, um das eigene Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen, und vielleicht das Ende der Geschichte, noch bevor die Autoren es umschreiben.

Der Erfinder dieser Welt, der 1961 geborene Schotte und Physiker Andrew Crumey, befaßt sich in der wirklichen Welt mit Chaostheorie. Davon scheint er einiges zu verstehen. Denn gelegentlich gelingt das Spiel: Gleichsam wie beim kalbenden Gletscher gebären sich die Figuren immer neu, doch meist gerät Crumey in seinem Roman "Die Geliebte des Kartographen" hoffnungslos ins Straucheln, stürzt und stolpert über die selbstgelegten Fäden und Fährten. Da identifizieren sich die imaginären Gestalten ersten Grades mit jenen zweiten Grades und verwechseln sich quasi mit sich selbst: Zwischen den Ebenen wird gemordet und geliebt.

In dem Maße jedoch, in dem die Protagonisten die Orientierung verlieren und nicht mehr wissen, ob sie erfunden wurden oder wessen Erfindung sie eigentlich sind, entgleiten auch Crumey die Fäden. Das Versprechen einer raffiniert angelegten Architektur vermag der Roman schließlich nicht einzulösen. Zu allem Überfluß lastet die penetrant vordergründige Konstruktion auch noch bleischwer auf der Sprache. Von Leichtigkeit und wohltuender Absurdität sind lediglich die Dialoge zwischen Pfitz und dem Grafen, sowie jene Sequenzen, in denen Pfitz groteske Lügengeschichten für seinen Herrn erfindet. Wenn dann aber über mehrere Seiten wortreich und adjektivlastig Schencks Faszination der ersten Begegnung mit Estrella beschrieben ist, liest sich das bestenfalls wie das vergebliche Ringen eines Buchhalters um das geschriebene Wort. Das ist so dünn, so gewöhnlich und so blutleer wie die weiße Haut, die sich über Estrellas Schlüsselbein spannt. "Aus der Ferne blickte er auf diesen Bereich blasser Haut und Blutbahnen, der einem hypothetischen Straßen- oder Flußsystem glich. Und er ließ die Augen zu den dickeren und tieferen Stellen der Haut schweifen, als sein Blick von diesen kühlen Regionen abwärts nach Süden zum warmen Versprechen ihres Busens glitt." Das ganze ist sprachlich auf einem derartigen Niveau, daß es selbst dem kühnsten Leser die Schamesröte ins Gesicht treibt. Da spätestens mag der Leser sich fragen, ob es Crumey und seinen Figuren nicht ebenso ergeht wie ihm: Daß sie sich nichts sehnlicher wünschen, als nicht weitergeschrieben, -korrigiert und -gedeutet zu werden. Wer wollte es ihnen verdenken, wenn sie flehentlich riefen: "Hier hört die Geschichte auf. Hier hört die Geschichte auf".

Titelbild

Andrew Crumey: Die Geliebte des Kartographen. Aus d. Engl. v. Pemsel, Klaus.
Insel Verlag, Frankfurt 1997.
224 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3458168370

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