Die Lust am Sehen

Bärbel Arenz und Gisela Lipsky stellen in ihrem Text- und Bildband „Mit Kompass und Korsett“ 16 reisende Entdeckerinnen vor

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wie es den Maler drängt, ein Bild zu malen, den Dichter, seine Gedanken auszusprechen, so drängt es mich, die Welt zu sehen“, schreibt die Österreicherin Ida Pfeiffer (1797-1858) über den Grund ihrer regen Reisetätigkeit. Nach einem anfangs bürgerlichen Leben als Ehefrau eines sehr viel älteren Rechtsanwalts und Mutter mehrerer Kinder entfacht der Anblick der Adria während eines Aufenthalts in Triest in ihr „eine kaum zu bewältigende Reiselust“. Sobald ihre zwei Söhne für sich selbst sorgen können, entscheidet sie sich aufzubrechen. Im Frühjahr 1842 ist es soweit: Die 44-Jährige besucht nach einer Fahrt durch den Balkan Istanbul und im Anschluss das ‚Heilige Land’, das ihr eigentliches Ziel ist. Nach der Rückkehr überredet sie ein Wiener Verleger, ihr Reisetagebuch zu veröffentlichen. Das Buch wird ein großer Erfolg und macht Ida Pfeiffer, die noch weitere ausgedehnte Reise unternehmen wird, in der Folge zu einer der beliebtesten Reiseschriftstellerinnen ihrer Zeit.

Der hier kurz gefasste Lebensweg der Wiener Autorin ist eine von insgesamt 16 Biografien, die Bärbel Arenz und Gisela Lipsky in Zusammenarbeit mit Gaby Ullmann in ihrem großformatigen und reich bebilderten Band „Mit Kompass und Korsett“ über reisende Frauen aus dem 18. bis zum 20. Jahrhundert präsentieren. Wie sie in ihrem Vorwort schreiben, haben sie bei der Auswahl der Frauen darauf geachtet, dass diese sich „aus eigenem Antrieb, auf eigene Faust auf die Reise machten“. So sind mitreisende Gatten außer Acht gelassen worden. Da es Arenz und Lipsky ferner darum gegangen ist, „die Damen selbst zu Wort kommen [zu] lassen“, sei es ihnen außerdem wichtig gewesen, dass die ausgesuchten Abenteurerinnen ihre Erlebnisse in Büchern und Briefen festgehalten hätten. So findet sich im Anschluss an die 16 Lebensläufe eine mehrseitige Literaturliste mit den Werken der aufgeführten Damen angefügt – mit Erstausgaben und Neuauflagen.

„Mit Kompass und Korsett“ gewinnt dadurch, dass die beiden Herausgeberinnen nicht nur deutschsprachige Reisende wie die Italienbesucherin Elisa von der Recke (1754-1833) oder die Orientinteressierte Ida Hahn-Hahn (1805-1880) mit in den Band aufgenommen haben, sondern auch englischsprachige wie Lady Hester Stanhorpe (1776-1833) oder französischsprachige wie Alexandra David-Néel (1869-1969). Zudem werden neben bereits bekannten Abenteurerinnen wie Gertrude Bell (1868-1926) oder Isabelle Eberhardt (1877-1904) auch solche vorgestellt, die – lange vergessen – nunmehr (wieder) zu entdecken sind, so die Russland-Besucherin Lisa Cristiani (1827-1853), die Nordafrika-Erforscherin Alexandrine Tinne (1835-1869) oder die Weltreisende Lina Bögli (1858-1941).

So unterschiedlich die 16 reisefreudigen Frauen bezüglich ihrer gesellschaftlichen Herkunft, ihrer finanziellen Situation und vor allem ihres Charakters auch sein mögen, sie gleichen sich darin, dass sie – die eine früher, die andere später – sich den bürgerlichen Konventionen verweigern und – kurz- oder langfristig – „aussteigen“, um eine anderes, abenteuer- und wissensreiches Leben zu führen. Ansonsten ähneln sie ihren männlichen Kollegen: So wie diese sind auch die Frauen neugierig auf die Welt außerhalb Europas, sehnen sich nach der Exotik und Fremdheit anderer Kulturkreise und streben nicht selten auch nach gesellschaftlicher wie beruflicher Anerkennung – für ihre Entdeckungen beispielsweise im Bereich der Botanik, Geografie oder Archäologie.

Die kurzen biografischen Abrisse – sie sind zwischen acht und zehn Seiten lang – geben einen knappen, aber guten Einblick in das Leben der Reisenden. Immer wieder werden ihre Briefe und Reisebücher zitiert, so dass der Leser einen Eindruck davon bekommt, wie die Frauen die außereuropäische Fremde wahrgenommen und dargestellt haben. Nicht immer, so fällt auf, sind sie frei von den Vorurteilen, die in ihren Gesellschaften gegenüber den Nichteuropäern herrschen. Dabei tradieren sie zwar Fremdbilder, doch genauso, wenn nicht öfter, stellen sie solche auch in Frage und können sie zurechtrücken – gerade wenn sie auf Gebiete und Ethnien stoßen, die nie zuvor von den Abendländern besucht worden sind.

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Eigenwahrnehmung der 16 Abenteurerinnen. Sie, die ihr durchschnittliches bürgerliches Leben zugunsten einer unsicheren und zuweilen lebensgefährlichen Existenz aufgeben, die sich einige – in ihrer Zeit als „männlich“ angesehene – Verhaltensweisen aneignen und in bestimmten Fällen auch deren Kleidung bevorzugen, sehen sich eher selten als Vorkämpferinnen für „die Sache der Frauen“. So tun sie diesen dennoch einen Dienst, indem sie mit ihrem Beispiel zeigen, dass es möglich ist, eine eigene, dem vorgegebenen Weg nicht entsprechende Richtung einzuschlagen und sich selbst zu verwirklichen.

Was auch immer die primären, individuellen Beweggründe für die Reisen sind – ob nun Abenteuerlust wie bei der britischen Weltreisenden Isabella Lucy Bird Bishop (1831-1904) oder der aus den USA stammenden Afrika-Forscherin May French Sheldon (1847-1936), Hunger nach Bildung und Sammelleidenschaft wie bei der Britin Mary Kingsley (1862-1900), der Wunsch, altägyptische Bauwerke zu bewahren wie bei Amelia Edwards (1831-1892), Nächstenliebe zu Leprakranken in Russland wie im Fall der Krankenschwester Kate Marsden (1859-1931) oder die zu den Aborigines bei der in Irland geborenen Daisy Bates (ca. 1859-1951), – sie alle sind, wie Arenz und Lipsky treffend schreiben, bezüglich ihrer Handlungsweisen „ihrer Zeit voraus, zugleich aber Kinder ihrer Zeit“.

So nutzen sie, wohlhabend oder bettelarm, gut gebildet oder noch wenig wissend, stets die modernsten Fortbewegungsmittel ihrer Zeit, um die bereits erschlossenen Regionen der Welt zu bereisen. Da, wo es auf der Karte noch weiße Flecken gibt, lassen sie sich nicht von der Unkenntnis der eigenen Leute abschrecken. Mutig und neugierig – und nicht selten mit Hilfe der Einheimischen – dringen sie in bis dato von Europäern unerforschte Gegenden vor und berichten davon auf spannende Art und Weise in ihren Reisebüchern, die nicht nur ein Lesevergnügen darstellen, sondern auch für die Wissenschaften von großer Bedeutung sind. So erwerben die reisenden Entdeckerinnen wie ihre männlichen Kollegen nicht selten Ruhm und Ehre, andererseits ist aber auch unter ihnen die Zahl derer nicht klein, die Opfer ihrer allzu großen Abenteuerlust und Tollkühnheit werden und dafür – oft allein in der Fremde und ohne Aussicht auf Rettung – mit ihrem Leben bezahlen müssen.

Arenz’ und Lipskys Band macht Lust auf weitere solcher abenteuerreichen Frauenbiografien. Sie erscheinen im Nachhinein jedoch nicht deshalb so ungewöhnlich, weil die zahlreichen, nicht selten lebensgefährlichen Unternehmungen von Frauen durchgeführt werden, sondern weil sie sich dazu durchringen, sich von ihrem komfortablen bürgerlichen Dasein zu lösen, der Neugierde folgend ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen und es trotz vieler Restriktionen selbstständig zu gestalten. So werden die 16 hier vorgestellten Frauen nicht nur zu Entdeckerinnen bisher unbekannter Regionen und Kulturen auf der Welt, sondern auch zu solchen verborgener gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten wie auch nicht gekannter eigener Talente. Das Außergewöhnliche an ihnen ist dann vielleicht, dass sie den Mut gehabt haben, ein wenig mehr zu wagen als der große ‚Rest’.

Titelbild

Bärbel Arenz / Gisela Lipsky: Mit Kompass und Korsett. Reisende Entdeckerinnen.
ars vivendi Verlag, Cadolzburg 2009.
163 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783897164185

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