Auf der Suche nach dem „Cold Mountain“

William T. Vollmanns ungewöhnlicher Reisebericht „Hobo Blues“ über das illegale Reisen auf Zügen und seine spezielle Melancholie

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Buchtitel verweist schon auf die beiden Themen des „Reiseberichts“. Vollmann schreibt über Hobos, über die in Amerika mit Hilfe der Eisenbahn illegal reisenden Tramps, und er schreibt über Melancholie, über den Blues. Zusammen ergeben diese beiden Themen ein Resümee über den Verlust von Heimat. Was Vollmann darunter versteht, wie er es erlebt und warum er dabei zusammen mit einem Freund als illegaler Mitfahrer auf Güterzügen unterwegs ist, das vermittelt anschaulich sein unkonventioneller Bericht aus dem Amerika des 21. Jahrhunderts.

Es ist deshalb ein „unkonventioneller“ Reisebericht, weil es im eigentlichen Sinne keine Reisen sind, die Vollmann auf den Güterzügen unternimmt. Es geht ihm niemals um ein Ziel, das erreicht werden soll. Er möchte keine Städte oder Bahnhöfe besuchen und auch keine bestimmten Strecken abfahren. Wichtig ist nur die Fortbewegung auf den Zügen, das Reisen an sich: „Auf einen Güterzug aufzuspringen löst in mir an sich schon Gefühle aus wie bei einem Schuljungen, wenn er an den Sommer denkt: Eine unendliche, wilde, grüne Freiheit wird schon bald in Reichweite sein! Aber nur im Sommer wird die Freiheit wirklich unendlich und grün. Das sind die Fahrten, auf denen ich mich in die Vergangenheit zurückträume oder sogar in andere Universen hinein.“ Dabei ist es die kritische Selbstreflexion des eigenen Handelns, die die Lektüre so empfehlenswert erscheinen lässt. Gerade in den Passagen, in denen Vollmann über seine Motivation schreibt, an sich selbst Fragen stellt, gelingen ihm kleine Prosaminiaturen, pointierte Gedankenspiele: „Ist irgendwohin zu fahren nicht dasselbe wie nirgendwohin zu fahren? schrieb ich, aber das führt zu einer anderen Frage: Ist von allem wegzulaufen nicht dasselbe, wie zu allem hinzulaufen? Wäre dann Angst nicht dasselbe wie Glück? Würde ich denn auf Achse gehen, wenn ich nicht versuchte, vor irgend etwas zu fliehen?“

Am schönsten fasst Vollmann seine „Abenteuer des Schienenstrangs“ zusammen, wenn er über seine Sehnsucht, seine Motivation berichtet. Dabei ist die Metapher vom „Cold Mountain“ sein Sehnsuchtsort, nach dem er auf der Suche ist. Hier steht er den Poeten der Beat Generation sehr nahe, die in dem chinesischen Dichter Hanshan und seinen „Gedichten vom Kalten Berg“ ein ihrer Lebensauffassung ähnliches Lebensmodell außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft fanden. Neben Jack Kerouac zitiert Vollmann immer wieder die von Mark Twain geschilderten Abenteuer auf einem Flussboot auf dem Mississippi und Jack Londons Erlebnisse als Tramp auf den Bahnschienen Nordamerikas. Die eigene Suche nach „Cold Mountain“ scheint dabei durchaus von Erfolg gekrönt: „Ich hätte niemals nach Cold Mountain gelangen können, denn mir fehlt Han Shans Sinn für diesen Ort. Ich liebe Städte so sehr wie die Einsamkeit, Prostituierte genauso wie Bäume. Und ich bin stolz darauf, daß das so ist. Weder die ekstatische Offenheit von Kerouacs Straßenreisenden noch die verbissenen Katz-und-Maus-Triumphe von Jack Londons Trainhoppern und gewiß nicht die schlaue Navigation aus Mark Twains Jugend auf dem Dampfschiff definieren, was ich bin. Ich gehe meinen eigenen stolpernden Weg, allein oder in Gesellschaft, mein Mut, meine Energie und Nächstenliebe lassen mich oft im Stich, und ich weiß nicht genau, wohin ich gehen muß, bis ich da bin.“

Zu dem hervorragend geschriebenen, journalistische und fiktionale Elemente verbindenden und ebenso herausragend von Thomas Melle übersetzten Text hat der Autor den vorliegenden Band zusätzlich noch mit umfangreichem Fotomaterial von seinen Reisen auf Güterzügen versehen. Die erstklassigen Schwarz-Weiß-Fotos geben einen Blick auf Vollmanns „Cold Mountain“ und vermitteln gleichzeitig eine professionelle Perspektive auf die Lebenswirklichkeit von obdachlosen Tramps im Amerika des 21. Jahrhunderts.

Titelbild

William T. Vollmann: Hobo Blues. Ein amerikanisches Nachtbild.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Thomas Melle.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
275 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420195

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