Selbstzeugnisse, fremd betrachtet

Der Sammelband „Der Blick auf sich und die anderen“ thematisiert das Eigene im Fremden aus eingeschränkter Perspektive

Von Andrea SieberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Sieber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selbstzeugnisforschung liegt im Trend. Die aktuelle Forschungsdebatte verabschiedet sich derzeit von eurozentrischen Konzepten von Individualität beziehungsweise vom teleologischen Denken, das ein autonomes Selbst lange als einen Zielpunkt der Moderne ausgemacht hatte (so etwa die DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“). Keywords wie „doing culture“ und „doing gender“ oder die Diskussionen um „multiple modernities“ signalisieren dabei zwei Bedürfnisse: Zum einen verschiebt sich der Fokus der Selbstzeugnisforscher vom singulären Selbst auf die Interaktivität und Pluralität von „Individualisierungsweisen“. Zum anderen wird auf der unschätzbar soliden Basis quellennaher Argumentationen zunehmend offensiv das interdisziplinäre Terrain der Kulturwissenschaften neu ausgelotet und um die vernachlässigte Ebene der fundierten Historisierung bereichert.

In dieser Hinsicht vermag der von Sünje Prühlen, Lucie Kuhse und Jürgen Sarnowsky zu Ehren des Mediävisten Klaus Arnold herausgegebene Sammelband „Der Blick auf sich und die anderen“ nicht zu überzeugen. Zwar werden Selbstzeugnisse zwischen den thematischen Polen von Selbst- und Fremdbildern verhandelt und über einen Zeitraum vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit betrachtet, aber das interdisziplinäre und transkulturelle Potential zur Begriffsbildung und Methodenreflexion wird zu Gunsten mikroanalytischer Verfahren verschenkt. Neben einer knappen Einleitung werden in vierzehn Beiträgen Selbstzeugnisse und als affin eingestufte Quellengattungen aus norddeutschen und nordeuropäischen Regionen ausgewertet, beschrieben und zum Teil mit Bildmaterial und Tabellen dokumentiert. Diese Präferenz ist sicher durch die Quellenlage determiniert und wurde wohl auch durch den Forschungsmittelpunkt von Klaus Arnold an der Helmut-Schmidt-Universität, der Universität der Bundeswehr Hamburg und der Universität Hamburg motiviert.

Ausgehend von einer „Soziologie des Fremden“ und deren Verschränkung mit Formen intersubjektiver Wahrnehmung des Eigenen und des Anderen werden unterschiedliche Facetten von Selbstdarstellung und Selbstrepräsentation in den Blick genommen. Betont wird die Alterität von Anerkennung in Abhängigkeit von Geburt, Gruppenzugehörigkeit und politisch-ökonomischer Dynamik. Die mit der Formulierung „von Frauen und Männern“ im Buchtitel angedeutete gender-Distinktion, also das Bedürfnis zwischen einem weiblichen oder männlichen Subjekt der Selbstrepräsentation zu unterscheiden, ist weniger systematisch gemeint, als vielmehr der Materialselektion einzelner Beiträge geschuldet.

Aufgrund der Heterogenität der versammelten Beiträge fällt es – wie so häufig bei Festschriften – schwer, ein klares theoretisches Konzept oder eine gewinnbringende thematische Struktur auszumachen. Wohl auch deshalb setzen die Herausgeber auf eine lokale oder geografisch-strukturelle Bündelung der Beiträge (Lübeck, Hamburg, hanseatischer Raum).

Um ein vorschnelles Urteil über den Sammelband zu vermeiden, ist demnach eine exzentrische Positionierung, ein Selbstexperiment hilfreich: Voraussetzung ist das Ablegen der mediävistischen Identität, das Lesen der Beiträge mit distanziertem Blick und die Akzeptanz räumlich-assoziativer Strukturen, aus denen Möglichkeiten der Andersheit emergieren.

Zunächst zur vertrauten Geografie: Im Mittelpunkt der Beiträge von Britta-Juliane Kruse, Stefanie Rüther und Maike Claussnitzer zu Lübecker Selbstzeugnissen beziehungsweise zu Totentänzen und Mysterienspielen stehen einerseits Aspekte weiblicher Verfügungsgewalt über Erbfolge, Testament und Heilsvorsorge, und andererseits literarische Dispositive, über die sich Selbstbilder von Lübecker Rezipienten und Auftraggebern mutmaßlich rekonstruieren lassen. Die Dimensionen des Fernhandels und der Hafendienstleistung, die Edition eines Testaments und die Aufarbeitung des Gebrauchskontextes zum Hamburger Domevangeliar bilden das vielschichtige Spektrum der von Peter Gabrielsson, Christina Deggim, Klaus J. Lorenzen-Schmidt und Hans Walter Stork ausgewerteten Hamburger Quellen ab. Mobilität und politische Umstrukturierungen im heterogenen Städtebündnis der Hanse nehmen Joachim Krüger, Karsten Igel und Thomas Weller zum Anlass, Berufsrisiken im Bereich des Münzwesens oder im Verlauf diplomatischer Missionen sowie hinsichtlich städtebaulicher Differenzen näher zu beleuchten.

Nun zur insularen Topografie: Die Beiträge von Marko Lamberg, Marie-Luise Heckmann und Dorit Raines sind Emigranten beziehungsweise Eliten gewidmet. Beide sozialen Gruppierungen verbindet eine gegenläufig zu betrachtende Tendenz der sozialen Exklusion und Isolation. Einerseits erzwingen ethnische und sprachliche Differenzen bei finnischen Emigranten in Schweden eine Stände übergreifende Gruppenkonsolidierung, die sowohl Integrationsbemühungen als auch Ausgrenzungsmechanismen unterstützen oder kompensieren soll. Andererseits korreliert die elitäre Selbstwahrnehmung von Klerikern des Deutschen Ordens in Preußen oder von Vertretern des Venezianischen Patriziats nicht zwangsläufig mit innerer Gruppenkohärenz und äußeren Machtdispositiven, was zu zwiespältigen Autonomisierungstendenzen führt. Während soziale Gruppen zur Selbstisolation tendieren und metaphorisch als Inseln der Vergemeinschaftung aufgefasst werden könnten, stellen Archive Inseln des Wissens dar. Erkenntnisse über dilemmatische Arbeitsstrukturen auf diesem Terrain vermittelt der Beitrag von Jan Lokers. Soll das Archiv zum rettenden Archipel werden, müsste das akkumulierte Wissen nicht mehr nur verwaltet, sondern auch professionell aufbereitet werden. Über diesen Arbeitsspielraum verfüge der postmoderne „Dienstleistungs-Archivar“ derzeit aber nicht.

Abgesehen von Lokers eher wissenschafts-politischem Statement streben alle übrigen Beiträge des Sammelbandes danach, durch quellennahe Argumentation unterschiedliche Facetten von Selbstdarstellung und Selbstrepräsentation im Eigenen und Fremden herauszupräparieren. Dies ist solide gemacht, und die Vielfalt des untersuchten Quellenmaterials – Bilder, Chroniken, Testamente, Urkunden, Codices, diplomatische Berichte, Ordensstatuten, literarische Texte oder Baustrukturen – dokumentiert diese Stärke im Detail.

Zugleich impliziert dies aber auch eine Schwäche: Die Suggestion von Innovation und Kohärenz in Geleitwort, Vorwort und Einleitung scheitert letztlich an einer ausbleibenden Theoretisierung. Eine interdisziplinäre und transkulturelle Vernetzung des Materials und eine methodische Operationalisierung des Zugriffs bleiben, abgesehen vom Beitrag von Raines, aus. Was unter Selbstzeugnissen letztlich zu verstehen sei, verschwimmt in der ausgebreiteten Materialfülle zur Unkenntlichkeit. Heterogenität koinzidiert hier mit Beliebigkeit. Der Band sei daher Spezialisten, nicht kulturwissenschaftlich Interessierten empfohlen.

Titelbild

Sünje Prühlen / Lucie Kuhse / Jürgen Sarnowsky (Hg.): Der Blick auf sich und die anderen. Selbst- und Fremdbild von Frauen und Männern in Mittelalter und Früher Neuzeit.
V&R unipress, Göttingen 2007.
452 Seiten, 72,00 EUR.
ISBN-13: 9783899713398

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