Nach der Erinnerung

Silke Horstkotte erschließt in „Nachbilder“ den Komplex von „Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur“

Von Jan GerstnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Gerstner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer die Trends auf dem deutschen Buchmarkt in den letzten Jahren auch nur flüchtig verfolgt hat, dem wird die Menge an literarischen Erinnerungstexten zum „Dritten Reich“, dem Zweiten Weltkrieg und Auschwitz kaum entgangen sein. Beinah ebenso auffällig wie die Präsenz des Gedächtnisthemas ist die Tatsache, dass dabei ständig auf Fotografien zurückgegriffen wird. Wenn in Reinhard Jirgls letztem Roman „Die Stille“ (siehe literaturkritik.de 3/2009) vor jedem Kapitel ein Foto aus dem Familienalbum beschrieben ist, das der Erzähler mit sich trägt, während er über die Geschichte eben dieser Familie sinniert, dann wundert man sich fast, so etwas nicht schon öfter gesehen zu haben. Ob als tatsächliche Reproduktionen im Text oder als Element der Erzählung: Die Erinnerung ans 20. Jahrhundert kommt auch in der Literatur kaum noch ohne Fotos aus.

Es war, zumal angesichts des gleichzeitigen Booms der Gedächtnisthematik und der Intermedialitätsforschung in den Literatur- und Kulturwissenschaften, wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand des Themas annahm. Silke Horstkottes aus ihrer Habilitationsschrift hervorgegangene Studie „Nachbilder“ füllt nun nicht nur diese Forschungslücke, sondern ist auch über ihren engeren Gegenstandsbereich hinaus äußerst anregend. Methodisch reflektiert und mit hoher Aufmerksamkeit für die interdisziplinären Aspekte ihres Gegenstandes beschreibt die Autorin die formalen, gedächtnis- und medientheoretischen sowie ethischen Implikationen des Bezugs auf Fotografien in der aktuellen „metahistorischen Gedächtnisliteratur“, wie sie die entsprechenden Texte treffend charakterisiert.

Es erstaunt nicht, dass W. G. Sebald dabei eine besonders prominente Rolle einnimmt. War er doch einer der bekanntesten und einflussreichsten Text-Bild-Experimentatoren in der Literatur der letzten Jahre, und auch seine Texte erweisen sich wegen ihrer intertextuellen und interikonischen Dichte für literaturwissenschaftliche Zugänge zum Komplex Gedächtnis und Text-Bild-Beziehungen als besonders ergiebig. Die nicht abreißende Produktion der Sebald-Philologie spricht hier im wörtlichen Sinne Bände. Horstkotte widmet dem Autor gleich die ersten beiden Kapitel ihrer Arbeit. Anhand von „Die Ringe des Saturn“ und „Die Ausgewanderten“ analysiert sie das äußerst vielschichtige Zusammenspiel von Bild und Text und dessen selbstbezügliche Thematisierung in Sebalds intermedialen und intertextuellen Zitierverfahren. Als besonders fruchtbar erweist sich hierbei Horstkottes rezeptionsästhetisch orientierte Konzentration auf die topografische und performative Seite des Text-Bild-Arrangements. Sie argumentiert überzeugend, dass durch den Versuch des Betrachters, Bild und Text interpretativ zu integrieren, ein „Ikonotext zweiter Ordnung“ entsteht, in dem das im Text thematische Gedenken vom Rezipienten, sozusagen als „Nachbild“, weiter geführt wird.

Eine vergleichbare interpretative Anstrengung wird auch den Protagonisten in den metahistorischen Gedächtnisromanen abverlangt. Vor allem die Kinder und Enkel der ‚Erlebnisgeneration’ müssen durch die verschiedenen Erinnerungsmedien – die Erzählungen der Älteren ebenso wie die Fotografien der Zeit – ihren Zugang zur Vergangenheit finden. In einer teilweise sehr theoriegeleiteten Lektüre von Uwe Timms „Am Beispiel meines Bruders“ und Ulla Hahns „Unscharfe Bilder“ geht Horstkotte der Frage nach den Zugängen der Nachkommen zum Gedächtnis nationalsozialistischer Täter mit Marianne Hirschs Konzept der „postmemory“ beziehungsweise, in der Übersetzung der Autorin, des „Postgedächtnisses“ nach. Horstkotte schafft es, den Begriff, der sich ursprünglich auf die Vermittlung der kollektiven traumatischen Erfahrung des Holocaustes an die unmittelbaren Nachkommen der Überlebenden bezieht, auf die Nachkommen der Täter und Mitläufer zu übertragen, ohne dass dabei die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verwischt würden. Es geht darum, die Leerstellen im Familiengedächtnis imaginativ zu überbrücken, was im Fall der Täter eben nicht ohne Distanz möglich ist. Besondere Bedeutung kommt dabei wiederum Fotografien als Erinnerungsobjekten zu, die, nachdem eine tatsächliche Erinnerung nicht mehr möglich ist, Gedächtnisspuren weiter materialisieren können. Weniger der dokumentarische Wert von Fotos – von einer Vorstellung der Fotografie als authentischem Bild grenzt sich Horstkotte wiederholt ab –, als vielmehr ihre Einbindung in Erinnerungspraktiken und Texte ist hierbei wichtig. Die Blicke, die auf die Fotos gerichtet werden, situieren dabei das Subjekt in familiären Beziehungen, können aber auch eine reflexive Distanz zulassen. Blicke spielen auch bei der späteren Analyse von Texten eine Rolle, in denen die Auseinandersetzungen der Enkel mit einer immer fremder werdenden Vergangenheit geschildert werden. So zeigt die Autorin unter anderem anhand von Marcel Beyers „Spione“, wie der Blick auf die Fotografie in Geschichten überführt wird, deren unsicherer fiktionaler Status letztlich auch die beglaubigende Kraft der Fotos selbst angreift.

Besondere Virulenz bekommt der Blick auf die Fotografie und auch die Fiktionalisierung beim Zugang zu einer Vergangenheit, deren unmittelbare Zeugen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert immer spärlicher werden: beim Gedenken an die Opfer, zumal, wenn sie von den Nachkommen der Täter und Mitläufer ausgeht. Die ethischen Probleme einer angemessenen Distanz, die sich der Fremdheit der Erfahrungen bewusst ist und nicht in eine unzulässige Identifikation umschlägt, diskutiert Horstkotte anhand von Texten Sebalds und von Monika Marons „Pawels Briefe“. Die Frage einer Ethik des Erinnerns wird hierbei nicht an die Autoren selbst verwiesen, sondern textintern angegangen. So steht bei Sebalds „Austerlitz“ das Verhältnis des Erzählers zu seinem Protagonisten im Vordergrund. Wenn die Autorin bei ersterem allerdings die mangelnde Empathie im Bezug auf die Vergangenheit als ethisch problematisch bezeichnet, wäre zu fragen, ob Empathie mit den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen gerade angesichts der Herkunft des Erzählers und der historischen Distanz, die ihn von jenen trennt, auch wirklich der richtige Zugang wäre. Horstkotte selbst meldet anlässlich der Diskussion um George Didi-Hubermans Buch „Images malgré tout“ in dieser Hinsicht (siehe literaturkritik.de 8/2008) Zweifel an.

Neben dem Bezug auf diese Diskussion um den ethischen Umgang mit fotografischen Zeugnissen der Shoah werden am Schluss noch einmal die beiden anderen thematischen Stränge der Studie – die Intermedialität und die Medialität des Gedächtnisses – aufgegriffen, resümiert und in eine weitere Forschungsperspektive eingeordnet. Nicht zuletzt die fruchtbare Zusammenführung dieser drei Themenfelder macht das Buch weit über die Untersuchung der deutschen Gegenwartsliteratur hinaus lesenswert.

Kein Bild

Silke Horstkotte: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur.
Böhlau Verlag, Köln 2009.
360323 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-13: 9783412203214

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch