Das Indien der Romantiker

Der israelische Historiker Chen Tzoref-Ashkenazi über die politischen Kontexte von Friedrich Schlegels indischen Studien

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war unter anderen Edward W. Said, der in seinem Buch „Orientalism“ behauptet hatte, Friedrich Schlegel sei ein Verkünder des arischen Rassismus avant la lettre, also ein Vorläufer der von Antisemiten wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain ausformulierten Lehre vom Dualismus einer ‚semitischen‘ und einer ‚arischen‘ Rasse, die im 20. Jahrhundert endgültig in einen deutsch-völkischen Antisemitismus mündete. Zweifellos waren es auch die Indologen des 19. Jahrhunderts, die dieser Ideologie den Weg ebneten.

Ob es allerdings jenseits willkürlicher Rückgriffe gerechtfertigt ist, auch dem Romantiker Friedrich Schlegel eine solche Vorläuferschaft anzulasten, untersucht die vorliegende, aus einer breiten Kenntnis der europäischen Aufklärung und der Romantik sowie der erst mythischen, dann philologischen Erschließung der indischen Kultur schöpfende Studie. Sie nimmt erstmals vor allem die politischen, weniger die sprachwissenschaftlichen und religionswissenschaftlichen Kontexte unter die Lupe.

Schlegels Indien-Studien, die 1809 in der Monografie „Über Sprache und Weisheit der Indier“ gipfelten, gewinnt Tzoref-Ashkenazi besonders zwei politische Kontexte ab: erstens den Mythos von einer nationalen deutschen Identität, die bald nach 1800 in den Fokus von Schlegels Aufmerksamkeit gerät, zweitens die Theorie von einem organischen Staat, dessen Ideal Schlegel spätestens nach 1810 im mittelalterlichen Feudalstaat erkennt. Indien, das schon Herder als quasi-natürliche Nation gepriesen hatte, gilt zeitweilig als Vorbild für die Deutschen beim Versuch, eine nationale Kultur zu schaffen. Vorbedingung für diese ‚Entdeckung‘ Indiens war die Revolutionsenttäuschung der Romantiker und damit die Abwendung vom griechisch-antiken Ideal, dessen Wiedergeburt man in Frankreich gesehen hatte und dem Schlegel bis in die Mitte der 1790er-Jahre gehuldigt hatte. Die neue Indien-Begeisterung vor allem bei Novalis und bei Friedrich Schlegel ist ein Ausdruck dieser Abwendung. Somit ist das idyllisierende romantische Indienbild ein spiegelbildliches Konstrukt zum Mythos des antiken Griechenland. Schlegel behauptet etwa, die Quelle der griechischen Mythologie sei die indische. Nach der 1803 erfolgten Konversion zum katholischen Glauben begann sich Schlegels historisch-politisches Interesse zunehmend auf das europäische Mittelalter und seine Restauration zu verlagern.

Mit seinem sprachgeschichtlichen Interesse am Sanskrit kanalisiert Schlegel die schon vor der Romantik begonnene Suche nach der „Ursprache“: das Sanskrit – und eben nicht das Griechische – wird zur vollkommenen Sprache erklärt. Zugleich gilt ihm die altindische Dichtung als Inspirationsquelle für die romantische Poesie. Indem er eine Verwandtschaft zwischen der deutschen Sprache und dem Sanskrit feststellt und das Sanskrit als den Ursprung aller Sprachen kennzeichnet, verknüpft Schlegel die orientalische mit der ‚nordischen‘ Welt – und zwar, wie Tzoref-Ashkenazi kritisch anmerkt, im Zuge der Verfestigung der eigenen konservativen Weltanschauung. Für Schlegel ist nun Indien das Ursprungsland der in Europa idealiter hegemonialen Deutschen; er nimmt eine Auswanderung der „Teutonen“ nach Norden an, die auf der in der indischen Mythologie verankerten Verehrung des Nordens beruht, also religiöse Motive gehabt habe.

Der Verfasser lässt in seiner vielschichtigen Monografie die Gemeinplätze der älteren Forschung hinter sich und trägt so zu einer gewissen politischen Entlastung der deutschen ‚Politischen Romantik‘ bei, zu der sich viele der Schriften Friedrich Schlegels seit seiner frühen republikanischen Phase rechnen lassen. Unproblematisch war dieses mehr als philologische und historische Interesse dabei nicht. Indem in Indien die kulturellen Wurzeln Europas liegen und damit ein in Deutschland fruchtbar zu machendes Ideal benannt wird, halten sich, so der Verfasser, Vereinnahmung und Distanzierung die Waage. Er stellt daher Schlegel in den Zusammenhang des „kulturellen Imperialismus“ Europas seit Beginn des 19. Jahrhunderts, ohne diesen Begriff allerdings näher zu definieren. Offenbar bezeichnet er das ‚theoretische‘ Pendant zur britischen Eroberung Indiens und zur französischen Eroberung Ägyptens, die Verankerung des Orients in Europa auch, oder eben: „nur“ in kultureller Hinsicht.

Sehr schlüssig zeichnet die Monografie die weiteren Rezeptionsstufen des romantischen Indien-Bildes nach, zugleich auch die Anfänge eines antisemitisch grundierten Nationalismus, der bei Achim von Arnim, Clemens Brentano und Ernst Moritz Arndt auszumachen ist und den die jüngere Romantikforschung zurecht kritisiert hat. Doch erst Jahrzehnte später werden philologische Erklärungsmuster durch biologisch-physiologische ersetzt.

Friedrich Schlegels Bruder August Wilhelm setzte auf seine Weise die Erforschung des alten Indien fort, indem er die Indologie, die Wissenschaft von der altindischen Sprache des Sanskrit, in Deutschland begründete. War er von nationalistischen Anwandlungen schon weiter entfernt als sein jüngerer Bruder, so verzichtete er auf eine offenkundige Instrumentalisierung seiner wissenschaftlichen Arbeit im Namen der eigenen Nation. Zumal es ihm auch gelang, an seiner Verehrung der griechischen Antike lebenslang festzuhalten, kann er noch weniger als Friedrich Schlegel als Vorläufer einer völkisch-rassistischen Ideologie gelten. Doch auch ohne Rassismus, so der Tenor der vorliegenden Studie, birgt die Verschränkung einer fremden Kultur mit der eigenen kolonialisierendes Potential in sich, soll die Erforschung der fremden Kultur Antworten geben auf Fragen, die die eigene Kultur – so eine glückliche Formulierung – „belasten“.

Titelbild

Chen Tzoref-Ashkenazi: Der romantische Mythos vom Ursprung der Deutschen. Friedrich Schlegels Suche nach der indogermanischen Verbindung.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
256 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783835304727

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