Dankbarkeit und Lebensweisheit

Inge Jens „unvollständige Erinnerungen“ an ein erfülltes Leben

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Schriftstellerin ist Inge Jens erst in ihren späten Lebensjahren hervorgetreten. Eher war sie die zuverlässige und kluge Herausgeberin von Texten. Hier setzte sie Maßstäbe. Vor allem die Herausgabe der Tagebücher Thomas Manns, die sie in der Nachfolge des verstorbenen Peter de Mendelssohn fortführte, wurde zu ‚ihrem‘ Projekt. „Kommentieren Sie keine Teebesuche“ hatte einstmals Golo Mann ihr empfohlen, „sondern dokumentieren Sie Historie“. Akribisch und kenntnisreich kam Inge Jens dieser Empfehlung nach. Sie entwarf einen ebenso eigenständigen wie umfangreichen Anmerkungsapparat, der eine ganz neuartige Lektüre ermöglichte. Mit berechtigtem Stolz zitiert sie in ihrem Buch Friedrich Sieburgs in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichtes Lob: „Sie hat den seltenen Fall geschaffen, dass der Leser die Anmerkungen mit dem gleichen Eifer liest wie den Text selbst. Die Genauigkeit, die Sachkenntnis und die ausgezeichnete stilistische Fassung geben diesen Noten das Gewicht einer selbständigen Leistung.“

Solche Anerkennung, so gesteht sie in ihren Erinnerungen, trug zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins bei und beugte auch der Gefahr vor, „nur als Frau eines interessanten und zunehmend berühmten Mannes zu gelten“. Dieser Mann war Walter Jens. Ihn, den vier Jahre älteren, hatte die 1927 in gutbürgerliche Verhältnisse geborene Hamburgerin, die 1949 als Studentin nach Tübingen gekommen war, eben dort als „Hausgenossen“ kennen gelernt. Auch er Hamburger, an der Universität bereits in Amt und Würden. Es ist ein sympathischer Grundzug ihrer „unvollständigen Erinnerungen“, wie ehrlich Inge Jens die Rolle ihre Mannes bei der Findung ihres eigenen Lebenswegs beschreibt. Denn der Weg, der, wie sie selbstkritisch vermerkt, vergleichsweise unbedarft der Nazizeit, dem Krieg und der Nachkriegszeit begegnenden jungen Frau war keineswegs vorgezeichnet. Vieles ergab sich zufällig. Und oft ergab sich der Zufall aufgrund der privaten Konstellation. Offen thematisiert Inge Jens diese in der Frauenemanzipationsgeschichte so geläufige Konstellation. Doch früh erkannte Inge Jens ihre Situation auch als Chance. Sie nutzte die Konstellation, ergriff die Gelegenheiten und führte die sich daraus ergebenden Herausforderungen konsequent mit ihren Fähigkeiten aus. Dabei wusste sie einen Mann an ihrer Seite, der mit ihrer wachsenden Selbständigkeit „durchaus keine Schwierigkeiten hatte, sondern alles in seinen Kräften Stehende tat, um sie zu fördern“. Aus lebenssatter Erfahrung durchzieht das Motiv der Dankbarkeit diese Erinnerungen: „Dass das nicht selbstverständlich, ja damals, um 1960, eher noch die Ausnahme war, blieb mir nicht verborgen, und ich war altmodisch genug, um ihm dafür dankbar zu sein.“

Durch Walter Jens, aber dann bald auch durch ihre erfolgreiche Editionsarbeit, lernte Inge Jens eine Fülle von Menschen kennen, die die literarische, kulturelle und politische Realität der alten Bundesrepublik und seit 1989 des wiedervereinigten Deutschlands prägten. Die Erinnerungen an Menschen wie Katia Mann, Golo Mann, Carola Stern, der Verlegerpersönlichkeit Ernst Rowohlt, Friedrich Schorlemmer, Richard von Weizsäcker und Johannes Rau, um nur einige zu nennen, machen einen beträchtlichen Reiz dieser Erinnerungen aus. Eine besondere Rolle spielte dabei die „Tübinger Gelehrtenrepublik“. Hier lebten enge Freunde wie Ernst Bloch und seine Frau Karola, Hans Küng vor allem aber Hans Mayer in unmittelbarer Nähe. Ergreifend zu lesen sind die Erinnerungen an den zuweilen als „schwierig“ geltenden Freund Mayer – „und, bei Gott, er war es: reizbar, leicht gekränkt, manchmal vielleicht ein wenig zu eitel“. Die Passagen über Mayer vermögen viel auszudrücken über diesen Mann, einem Freund, „vermutlich der anspruchsvollste, den ich je hatte.“

Ebenso dankbar wie angeregt erinnert sich Inge Jens an die Jahre 1989 bis 1997, während der Walter Jens Präsident der Akademie der Künste in Berlin war. In seine Amtszeit fiel die beschwerliche und ungeliebte Vereinigung der West-Akademie mit dem Pendant im Osten. Inge Jens erlaubt einen aufschlussreichen Einblick in die tiefen Zerrissenheiten, die diesen Prozess begleiteten und bis heute nachwirken.

Doch klagt Inge Jens nicht an. Ihre Erinnerungen gründen in einer altersweisen Gelassenheit. Sie überwindet die kurzatmigen Emotionen und Bewertungen der unmittelbaren Zeitgenossenschaft und gliedert die Geschehnisse in eine überzeugende Lebensgeschichte ein. Dass zu dieser Geschichte auch die zivilgesellschaftlichen Aktionen der beiden Jens im Rahmen der Friedensbewegung gehören, erscheint in ihrer Darstellung als natürliche Konsequenz.

Im letzten Kapitel ihres Buches widmet sich Inge Jens ganz ihrem Mann. Walter Jens ist erkrankt. Er leidet an Demenz, und unschön spektakulär hatte man davon schon vom Sohn Tilman Jens erfahren. Inge Jens ehrliches und einfühlsames Kapitel „In guten und in schlechten Tagen“ schildert den Umgang mit der schleichend sich ankündigenden Krankheit, dem verlauf und dem immer mehr ihr ausgelieferten Kranken. Ihre sehr private Darstellung bestätigt die Notwendigkeit, sich dem Leben – auch und gerade in schlechten Tagen – zu stellen. Es ist schwer, schmerzhaft und immer wieder auch traurig. Aber der letzte Satz des Buches lautet dennoch: „Ja, es war wunderbar“ – das Leben.

Titelbild

Inge Jens: Unvollständige Erinnerungen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498032333

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