Das Gefühl in der Schablone

„Die Errettung der modernen Seele“: Eva Illouz über Entstehung, Funktionsweisen und Folgen des allgegenwärtigen Psycho-Talks

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man stelle sich einen beliebigen Gast in einer Talkshow vor, sagen wir bei Reinhold Beckmann. Und auf die unvermeidliche Frage nach seiner Kindheit, nach prägenden Erfahrungen käme als Antwort: „Es wäre eine einzige Eselei, wenn man aus meinen frühen Jahren irgendetwas machen wollte. Das lässt sich alles in einem einzigen Satz zusammenfassen… den kurzen und schlichten Annalen der Armen.“

Vermutlich erschiene uns ein solches Desinteresse an der eigenen Biografie als Zeichen mangelnder Intelligenz oder Sensibilität. Eva Illouz zitiert diese Äußerung Abraham Lincolns aus dem Jahr 1860 als Beleg dafür, wie wenig Bedeutung frühere Generationen der eigenen Kindheit beimaßen. Und wie tief greifend der Wandel unseres Selbstverständnisses ist, der sich im 20. Jahrhundert im Zeichen von Psychoanalyse und Psychotherapie vollzogen hat – bis hin zu Selbsthilfegruppen von Menschen, die sich traumatisiert fühlen, weil ihre Großeltern Holocaustopfer waren, so Illouz.

In ihrem neuen Buch untersucht die israelische Kultursoziologin Entstehung, Funktionsweisen und vor allem die Folgen des „therapeutischen Diskurses“, der mit seinen Begriffen, Modellen und Erzählschablonen wie kein anderer die moderne Gesellschaft prägt. Von theoretischen Unterschieden zwischen einzelnen Richtungen sieht Illouz dabei ebenso ab wie von der Differenz zwischen institutionalisierter Therapie und dem Psycho-Talk in Massenmedien und Populärkultur: Entscheidend sei, dass der therapeutische Diskurs in seiner Vielfalt „zu einem der wichtigsten Kodes geworden (ist), um das Selbst auszudrücken“. Viele der hier ventilierten Thesen sind deutschen Lesern bereits aus Illouz’ Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2004 bekannt, nun werden sie auf eine materialreiche Basis gestellt, einem Quellen-Potpourri aus (US-amerikanischen) Familienzeitschriften, Lehrbüchern und Ratgebern, Tiefeninterviews mit Mittelschichts-Angehörigen sowie dem offenbar unbeschadet überstandenen Besuch einschlägiger Psycho-Workshops in Israel.

Wie in ihren viel diskutierten Arbeiten über die Liaison zwischen kapitalistischer Konsumgesellschaft und romantischem Liebesideal zeichnen sich Illouz’ Analysen auch diesmal durch eine sympathisch unaufgeregte „immanente Kritik“ aus. Der therapeutische Diskurs wird von ihr an keinem ideologiekritischen oder gar feministischen Ideal gemessen, sondern an dem, was er nach seinem Selbstverständnis leisten will. Und das ist nicht wenig: In Zeiten zunehmender Komplexität und normativer Unsicherheit im Berufs- wie im Privatleben versprechen Therapeuten Orientierung, Identität und Erlösung, die Ausbildung eines kohärenten Selbst, die Reparatur verkorkster sozialer Beziehungen und angeknackster Psychen. Gäbe es sie noch nicht, man müsste diese bemerkenswerte „kulturelle Ressource“ glatt erfinden, scheint es.

Das hat freilich schon Siegmund Freud getan. Seine 1909 an der Clark-University vorgetragene Lehre passte, jedenfalls in ihrer auf Optimismus getrimmten amerikanisierten Form, einfach zu gut zu dem sich vollziehenden gesellschaftlichen Umbruch in Familie und Sexualität. Und machte darüber hinaus den Alltag zu einem unendlich analysierbaren Abenteuer. Von vergleichbar initialer Wirkung waren 15 Jahre später die Befragungen der Arbeiterinnen in den „Hawthorne“-Werken durch den Harvard-Professor Elton Mayo. Erstmals wurde die Bedeutung von Emotionen und zwischenmenschlichen Beziehungen für die Produktivität und Effizienz eines Unternehmens herausgestellt.

Der Einsatz von Psychologen in Unternehmen führte zur Aufwertung „weiblicher“, empathischer Kommunikationsstile; „emotionale Kompetenz“ avancierte zur entscheidenden Führungsqualität von Managern. Heute sollen sich erfolgreiche Mitarbeiter mehr denn je durch ein paradoxes Mehr an Reflexivität und Emotionalität auszeichnen: Sie müssen zuhören und sich in andere einfühlen können, ihre eigenen Interessen erkennen und kommunizieren und sich zugleich von „negativen“ Emotionen wie Wut oder Frustration distanzieren, deren Zurschaustellung als Schwäche gilt.

Etwas zeitversetzt veränderten Psychologen – in diskreter, aber umso mächtigerer „Allianz“ mit dem Feminismus, der vordergründig die Psychotherapie lautstark als Werkzeug des Patriarchats bekämpfte – radikal die Vorstellung von intimen Beziehungen. Viktorianischen Eheleuten wäre es nie in den Sinn gekommen, ihre Beziehung als einen Ort anzusehen, an dem sich die Partner, nicht zuletzt sexuell, selbst verwirklichen sollten. Ähnlich wie in Unternehmen führte der therapeutische Diskurs auch auf dem Gebiet der Intimität zu einer Auflösung der tradierten Geschlechterrollen: Frauen sollen heute selbstbewusst ihre Rechte und Bedürfnisse einfordern, von Männern werden emotionale und kommunikative Qualitäten erwartet. Das paradoxe Ergebnis: In den Schlafzimmern herrscht die Sprache der Rechte; erwartet werden Fairness, Gleichberechtigung, aber natürlich auch Leidenschaft und Spontaneität. „Es mag eine gewisse Ironie darin liegen“, so Illouz süffisant, „dass nichts die Ehe so kompliziert machte wie die Idee und das Ideal der emotionalen und sexuellen Übereinstimmung.“

Aus dem spannungsvollen Einerseits und Andererseits, das Illouz’ Analysen entfalten, wird der Leser bis zum Schluss nicht entlassen. In der modernen Gesellschaft wird es eben immer zugleich besser und schlechter, wie schon Niklas Luhmann konstatierte. Den ehrpusseligen Macho von einst etwa wird keine Frau zurückwollen – aber für jene letzten Recken, die lieber beredt schweigen, als sich „zu öffnen“, können die neuen Erwartungen beruflich wie privat zum unüberwindbaren Hindernis werden. Das von Illouz höchst skeptisch betrachtete Ideal einer „emotionalen Intelligenz“ oder „Kompetenz“ führt so geradewegs zu neuen Formen sozialer Ungleichheit.

Je mehr Leiden der therapeutische Diskurs attestiert, desto mehr werden gleichzeitig von ihm neu geschaffen. Das ist keine neue Einsicht; schon die literarische Moderne formulierte sie, von Karl Kraus bis Robert Musil, in ihrer Auseinandersetzung mit Freud, aber sie ist heute richtiger denn je. Diffuse, niemals präzise definierte Ideale wie „Selbstverwirklichung“ und „psychische Gesundheit“ produzieren bei der Klientel eben jene Dauerunsicherheit, die die Therapie zu beseitigen verspricht. Und die Psycho-Sprache der Seelenklempner stellt zwar ein Vokabular der Innerlichkeit zur Verfügung, reißt aber das individuelle Gefühl aus seinem Kontext: Indem sie es in ihre starren Schablonen presst, „verliert die Liebe ihren unmittelbaren Charakter.“

Titelbild

Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Adrian.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
412 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783518585207

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