Erinnerungsarbeiter mit Ticks

Über Rainer Merkels Roman „Lichtjahre entfernt“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten: Auf diese knappe Formel brachte einst Sigmund Freud seine Heilkunst. Ein bis heute angewandtes Therapieprogramm, das allerdings ein Gegenüber voraussetzt. Wer sich selbst alleine analysieren will, läuft rasch Gefahr, sich etwas vorzumachen. Sogar dann, wenn man ein erfahrener Psychologe ist wie Thomas Kaszinski, der Ich-Erzähler in Rainer Merkels Roman „Lichtjahre entfernt“. „Es ist nur ein Wochenende. Es ist nicht der Rede wert, aber es geht schief. Und ich frage mich, was eigentlich genau passiert, was genau schiefgelaufen ist. Was ist in New York passiert, frage ich mich, während ich am Fenster der Wohnung in Williamsburg stehe und in das feuchtdunkle Grau des Himmels hineinschaue.“

Was in New York passiert ist, ist ebenso banal wie schnell erzählt: Der Münchner Familientherapeut wollte dort mit seiner langjährigen Freundin ein gemeinsames Wochenende verbringen. Doch das Wiedersehen mit Judith, die seit Monaten in Washington ein Praktikum absolviert, ging schief: Ein Abgrund an Fremdheit tat sich plötzlich auf, der Abschied auf dem Port Authority Bus Terminal verlief in erschreckender Sprachlosigkeit.

Jetzt, wenige Stunden vor seinem Rückflug nach München, kämpft Kaszinski um sein „psychisches Gleichgewicht“ und beginnt mit seiner „Erinnerungsarbeit“. Nicht nur die möglichen Schlüsselmomente des desaströsen Wochenendes werden ins Gedächtnis gerufen – und von Kaszinski prompt als irrelevant wieder verworfen –, sondern auch frühere Reisen des Paares wie ein Ausflug nach Baltimore oder eine Reise durch die Mohave-Wüste. Ebenso Erlebnisse ohne Judith: den Besuch einer Schwulenparty auf dem Hudson, die letzte Sitzung vor dem Hinflug mit einem schwierigen Klienten, ein Treffen mit zwei Callgirls.

Es gibt Bücher, die weniger durch eine originelle Geschichte überzeugen als vielmehr durch die Art ihrer Darbietung. Merkels dritter Roman ist ein solcher Fall. Schon in seinen früheren Werken ging es um Protagonisten, die sich in einem eigentümlichen Schwebezustand zwischen Träumen und Wachen befanden. Wie 2001 in „Das Jahr der Wunder“, Merkels großartigem Debüt mitten aus dem Herzen des New-Economy-Hypes. In seinem neuen Roman kommt die Verabschiedung der Chronologie hinzu – einem von James Joyce bis Christa Wolf altbekannten Merkmal anspruchsvoller Literatur. Doch es imponiert, wie radikal Merkel das „primitiv Epische“, um es mit Robert Musil zu sagen, hier überwindet.

In dem absatzlosen, durchgehend in der Gegenwartsform gehaltenen Fließtext wechseln ständig die Zeitebenen, übergangslos, von einem Satz zum nächsten. Während der Therapeut im Hier und Jetzt erst die fremde Wohnung aufräumt, dann zum Flughafen hetzt, um seine Maschine nicht zu verpassen, durchquert er gleichzeitig immer wieder dieselben Erinnerungsräume seiner Psyche, in der es nur ein Nebeneinander aber kein Nacheinander gibt: „nur pure Gleichzeitigkeit, pures Simultandolmetschertum von Gefühlen und Bildern. Eine einzige Gleichzeitigkeit von Erinnerungen, die nur angedeutete Erinnerungen sind, Erinnerungen wie angetäuschte Bewegungen eines Sportlers, eines Boxers oder Fußballspielers, der im letzten Moment verzögert.“

Merkels Erzählkonstruktion führt zu einer extremen Vertiefung und Dehnung der Zeit, während diese gleichzeitig dem Protagonisten in der Gegenwart davonläuft. Zeit braucht es auch, bis sich der Leser in dem hektischen Hin und Her zurechtfindet. Aber dann siegt die Lust am Kombinieren und Ordnen. Bald schon glaubt man, das Scheitern dieser Beziehung zu verstehen: Zu ungleich sind die Partner – hier der erfolgreiche Therapeut, dort die ewig promovierende Studentin –, zu bevormundend die Liebe Kaszinskis, für den die Frage, ob sie sich in New York oder in Washington treffen, Teil eines „Machtkampfes“ ist. Judith selbst, die der Leser ja nur aus der unzuverlässigen Perspektive des Ich-Erzählers kennenlernt, behält dabei ebenso ihr Geheimnis wie jene ruhelose, „nomadische Liebe“ der beiden, von der man nur Bruchstücke und Rituale erfährt wie jenes, sich von jedem Hotelzimmer oder Schlafwagenabteil am nächsten Morgen dankbar zu verabschieden.

Was an Kaszinskis Selbstanalyse fasziniert, ist zu beobachten, wie sich hier ein ausgebuffter Psychologe selbst in die Tasche lügt. Ein großartig erzählter Selbstbetrug, dem nicht zuletzt das Sichklammern an scheinbar bedeutungsträchtigen Details dient, die von der hypersensiblen Psyche des Erzählers gespeichert wurden wie das Tropfen der kaputten Dusche in der New Yorker Wohnung. Neben der Detailbesessenheit des Ich-Erzählers ist es gerade die fehlende Chronologie, die entlastende Fehldeutungen provoziert: Lange glaubt man, Kaszinski sei nach dem gescheiterten Wochenende, aus Frust, zu den beiden Callgirls gegangen; dann wird deutlich, dass sein Seitensprung schon vorher geschah.

Den alles entscheidenden Moment, nach dem Kaszinski sucht, gibt es nicht, nur eine Folge symptomatischer Nahaufnahmen, die dem Leser die feinen Risse in dieser Beziehung verraten. Er nimmt gegenüber dem Icherzähler die Therapeutenrolle ein, muss das sich entfaltende Erinnerungswirrwarr deuten und analysieren. Dass sich der Protagonist am Ende als jemand entpuppt, der süchtig nach käuflichem Sex ist und, ohne es zu merken, mit seinen heimlichen Eskapaden jede tiefere Beziehung zu Judith sabotiert, enttäuscht allerdings: So blind gegenüber seinen eigenen Ticks kann selbst ein Psychologe nicht sein.

Titelbild

Rainer Merkel: Lichtjahre entfernt. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
208 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783100484420

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