Wachsame Gelehrsamkeit

Aufsätze Klaus Garbers zur Frühen Neuzeit als Denkstil

Von Gabriele GuerraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Guerra

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Recht betont Klaus Garber, emeritierter Professor für Literaturtheorie und Geschichte der Neueren Literatur an der Universität Osnabrück und Mitbegründer des dortigen Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, schon im Vorwort des Buches die Wichtigkeit zweier Namen der Romanistik und zweier Topoi der frühneuzeitlichen Literatur: zum Einen nennt er Ernst Robert Curtius und Richard Alewyn (einem Lehrer Garbers), zum Anderen erwähnt er den locus amoenus und den locus terribilis als entgegengesetzte Urbilder und Begründungsfiguren der europäischen Literatur.

Und in der Tat geht es in dieser enormen Aufsatzsammlung darum, die symbolischen und konkreten Orte der europäischen Literatur in der Zeit zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert auszumachen und dabei zugleich aktuelle und weniger aktuelle Forschungen der Romanistik und Germanistik unter die Lupe zu nehmen. Beide Aspekte spielen hier eine zentrale Rolle, um eine kritische – und das heißt hier kulturpolitisch und sozialideologisch gedachte – Literaturgeschichtsschreibung zu entwickeln. Exemplarisch dafür ist ein Passus aus dem ersten, einleitenden Aufsatz „Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen. Implikationen und Perspektiven“: Da „nationale Diskurse“ „in besonderer Weise auf appellative Legitimationsmuster“ verweisen, muss nach Garber „die Kategorie des Nationalen als konstitutive Größe der frühneuzeitlichen Literatur Europas […] stets erneut von ihren reaktionären Entstellungen gereinigt werden“.

So kommt Garber dazu, kulturpolitische Diskurse der Frühen Neuzeit konkret zu rekonstruieren und sie mit literaturgeschichtlichen Reflexionen über die Literatur der Zeit sowie mit politikgebundenen Aussagen über den poetisch-literarischen Bereich zu durchkreuzen: In dem langen Aufsatz „Die Idee der Nationalsprache und Nationalliteratur“ entwirft zum Beispiel der Autor nicht nur ein genaues Bild der europäisch-neuzeitlichen Kulturlandschaft am Beispiel des Zusammenhanges zwischen Sprache und Literatur, sondern arbeitet dabei auch den kulturellen und politischen Charakter dieser Beziehung heraus. Garber stellt sich die Frage, welche Rolle die Beziehung von Kunst und Politik auf deutschem Boden hatte, und kommt zum Schluss: „Indem es den deutschen Humanisten gelang, dem Taciteischen Germanenbericht eine mythische Dimension zu verleihen und ihn kulturpolitisch so zu aktivieren, daß sie ihr eigenes literarisches Handeln darauf gründen konnten, vermochten sie in Kombination mit einer gleichfalls kulturpolitisch aufgewerteten translatio artium-Theorie den Italienern den Führungsanspruch streitig zu machen, ja sogar als Vollender des in Italien Begonnenen zu erscheinen“.

Er baut somit eine Brücke zur späteren, pauschal als „barock“ bezeichneten Weltauffassung, wie sie sich bei Martin Opitz als „Dialektik von humanistischer Gelehrsamkeit und höfischem Wirkungsraum“ konkretisierte. Indem er zugleich auf den nationsbildenden Charakter des Schrifttums dieser Zeit verweist, macht der Autor nachvollziehbar, inwiefern die translatio artium humanistische Kulturgüter nach Deutschland importierte. Tatsächlich stellt hier die Beziehung zwischen Poesie und Politik das Hauptmotiv dar, das literaturgeschichtliche Entwicklungen auch als soziale und kulturpolitische Entwicklungen erscheinen lässt.

Als „ein Dokument intellektueller Weitläufigkeit und einen Beleg für den Ausgang der germanistischen Philologie aus ihrer selbstverschuldeten Enge“ bezeichnete Lothar Müller dies in seiner Rezension in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 22.04.09. Und dies mit Recht, nicht nur weil der Autor hier eine umfassende Gelehrsamkeit und eine kultur- und philologiekritisch wachsame Haltung an den Tag legt, sondern auch deswegen, weil das Buch zu geschichtsbewusster und philosophiegeladener Reflexion anregt. „Lesen heißt Umlesen. Unaufhörlich wandeln sich die Bilder der Geschichte, die wir in uns tragen“. So eröffnet Garber seinen Aufsatz „Der Frieden im friedlosen Europa. Von Jesaja bis Benjamin“ – und das gilt offenbar nicht nur für eine Analyse des Friedensgedankens zwischen alttestamentarischen Anfängen und philosophiegeschichtlichen Entwicklungen, sondern funktioniert auch als Plädoyer für eine Leser- und Forscherhaltung dem geschichtlichen Entwicklungsgang gegenüber.

Und doch soll nach Garber diese Haltung sozusagen als geschichtsphilosophischer Apparat dienen, einerseits um die longue durée der Geschichte besser wahrzunehmen und in der Forschung zu etablieren, andererseits um einen Geschichtsbegriff zu gewinnen, der auch die interdisziplinären Kontexte im weitesten Sinn als vielfältige Ganzheit der Werke, jenseits der von Autoren intendierten Zusammenhänge, berücksichtigt.

Auf diese Weise wird die longue durée sowohl zu einem Messwerkzeug, um die Epochen zu umfassen, als auch zum historiografischen Denkstil, um deren Konzeptualisierung in Frage zu stellen. Der Fall des Barocks wird in diesem Sinn von Garber lieber als „Späthumanismus“ beschrieben – dieser Begriff nämlich „hält den engen Zusammenhang mit den späten Ausprägungen der neulateinischen Poesie fest, aus der diese Dichtungen herauswachsen; er [der Späthumanismus] verweist auf das maßgebliche europäische Referenzsystem, und er indiziert zugleich, dass diese Schöpfungen allesamt in eine Spätphase fallen, nachdem die Zeit des schöpferischen Hochhumanismus in Städten und Territorien vorüber ist und die gelehrten Dichter im Angesicht der Krisenerscheinungen des 16. und 17. Jahrhunderts die poetische Formenwelt des Humanismus fortschreiben”.

Die Lektüre dieser Essaysammlung wird somit zu einem doppelten Genuss: denn einerseits ist ein vielstimmiger Beitrag zur neuzeitlichen Literaturgeschichtsschreibung, andererseits dokumentiert sie eine facettenreiche intellektuelle Karriere, die jetzt mit der Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg abgerundet wurde.

Oder mit den Worten Walter Benjamins aus seinem „Ursprung des deutschen Trauerspiels“: „Nur eine von weither kommende, ja sich dem Anblick der Totalität zunächst versagende Betrachtung kann in einer gewissermaßen asketischen Schule den Geist zu der Festigung führen, die ihm erlaubt, im Anblick jenes Panoramas seiner selbst mächtig zu bleiben“.

Titelbild

Klaus Garber: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit.
Wilhelm Fink Verlag, München 2009.
520 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783770543656

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