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Die Historikerin und Begründerin der Women’s Studies Gerda Lerner berichtet über die ersten vierzig Jahre ihres Lebens

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es hat einen bestimmten Moment gegeben, der hat meine Kindheit zertrümmert. Der Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt“, bekannte Ingeborg Bachmann 1971 in einem Gespräch mit Gerda Bödefeld. Ein ähnlich einschneidendes Erlebnis zerstörte auch die Kindheit eines anderen österreichischen Mädchens. An einem Tag im Februar 1934 wurde es Zeugin der Niederschlagung des „tapfere[n], verzweifelte[n] und hoffnungslose[n] Widerstand[s] der österreichischen Arbeiter gegen den Faschismus“. Durch dieses „Warnsignal für die Katastrophe, die danach kam, für die schwarze Nacht, die über Europa hereinbrach“, fühlte es sich „fast unmerklich, aber doch in entscheidender Weise“ von seiner Kindheit „abgeschnitten“. Gerade mal vierzehn Jahre alt war das Kind, als „das Private für mich politisch geworden war“.

Und so verbindet das vorliegende Buch, das sich im Untertitel als „politische Autobiographie“ ausweist, beides miteinander. Wobei in einer Autobiografie das Politische natürlich das Historische ist – zumal wenn deren Autorin eine Historikerin namens Gerda Lerner ist. Denn sie ist es, die von dem einschneidenden Kindheitserlebnis im Februar des Jahres 1934 berichtet, von dem an ihr privates und ihr politisches Leben eng miteinander verbunden blieben, wenn auch nicht immer auf so schreckliche Weise wie während der Naziherrschaft. Als sie bereits im amerikanischen Exil war, wünschte sie sich einerseits sehnlich, „dass die Alliierten sich gegen Hitler stellten, und dass der Krieg, der schließlich Hitlers Herrschaft beenden würde, endlich begann“. Andererseits war sie sich jedoch schrecklich bewusst, dass ihre zwar nicht im von Deutschland einverleibten Österreich, aber doch in Europa und zuletzt in Frankreich zurückgebliebene Mutter dann „mittendrin“ sein würde.

„Feuerkraut“ ist der Titel des Buches. Es ist die Pflanze, die nicht nur nach Waldbränden, sondern etwa auch nach der Zerstörung von Städten als erste wieder aus Asche und Ruinen hervorbricht. Die erste Botin neuen Lebens also. Dabei spielt der Titel keineswegs nur auf die Nachkriegszeit an, sondern auch auf das intellektuelle Leben in den USA nach der McCarthy-Ära.

Autobiografien von HistorikerInnen sind Glücksfälle – zumindest im vorliegenden Fall. Denn als „Geschichtswissenschaftlerin, die über das Leben anderer forscht“, schreibt Lerner auch über ihre eigene Biografie sehr reflektiert und wertet die eigenen Erinnerungen nicht weniger kritisch als die Anderer oder als gedruckte Quellen und materielle Zeitzeugen, die sie im übrigen nie überbewertet, auch und gerade weil die „Versuchung“ groß ist, zufällig überlieferte Artefakte und Dokumente „für das Leben selbst zu halten, nur weil sie nicht verloren gegangen sind“.

Lerner lässt ihre Biografie im Jahre 1958 enden, „zu der Zeit, als mein Leben als Historikerin begann“ und noch einige Jahre bevor sie als Begründerin der Women’s Studies weit über die Grenzen ihres Faches hinaus Ruhm und Anerkennung erlangen sollte. Geschrieben hat sie das Buch, weil sie ihre „Lebensgeschichte dokumentarisch in Ordnung bringen“ wollte. Und weil es ihr darum ging, „die Wege, die ich gegangen bin, zu beschreiben, und die Welt, in der ich gelebt habe, und die Entscheidungen, die ich in dieser Welt getroffen habe“, ist daraus eine „politische Teilbiographie“ geworden, in der die nunmehr nahezu 90-Jährige einen immer wieder selbstkritischen Blick zurück auf die ersten vierzig Jahre ihres Lebens wirft. Nie hat man das Gefühl, sie beschönige irgendeine ihrer Handlungen oder Haltungen. Das ist keine geringe Leistung. Und die Lektüre des Buches stärkt das Vertrauen in ihre Versicherung, „alles in dieser Geschichte“ sei „niedergeschrieben nach bestem Wissen und nach meiner Erinnerung“. Doch warnt sie auch: „Erinnerung ist bekanntlich subjektiv und fehlbar“. Und einige Namen „beteiligter Personen“ hat sie bewusst geändert, um deren Privatsphäre zu schützen.

Während ihrer frühen Kindheit durfte sich die erstgeborene Tochter des Ehepaars Ilona und Robert Kronstein „in einem behaglichen Wiener Bürgerhaushalt“ wohlbehütet fühlen. Gerade aus dieser Zeit weiß die Autorin die eine oder andere nette Anekdote zu berichten, die zugleich deutlich machen, wie lebendig Lerner ihre Erinnerungen den Lesenden vor Augen zu stellen versteht. So antwortet die schwangere Mutter auf die unausweichliche Frage der damals Fünfjährigen, wo denn das künftige Geschwisterchen jetzt sei: „‚In Muttis Bauch, wo du auch warst, bevor die geboren wurdest.‘ So etwas Dummes musste als Unsinn der Art abgetan werden, den Eltern ihren Kindern auftischen, wenn sie ihnen nicht die Wahrheit sagen wollen. Was das Fräulein sagte, klang weitaus plausibler, nämlich, dass der Storch die Babys brachte, die er zuvor aus dem Kaufhaus holte“.

Ganz so behaglich ging es dann aber doch nicht immer zu, wie die „Anfänge“ des Buches auch zeigen. So hatte das Mädchen nach dem Willen ihrer belesenen Mutter eigentlich Hedda heißen sollen – „zu Ehren Hedda Gablers“. Doch konnte sie sich gegen den vereinten Familienwillen von Ehemann und Schwiegermutter nicht durchsetzen. So ließ sie den Zufall entscheiden, indem sie den Namen wählte, der ihr in einer Zeitschrift als erstes in die Augen fiel: Gerda. Fünfeinhalb Jahre später war sie allerdings stark genug, den Namen Nora für ihre zweite Tochter durchzusetzen, wiederum der einer Frauenfigur Ibsens.

Unterdessen wurde die Autorin sich selbst schon in zartem Alter „der Tatsache voll bewusst, dass ich niemals ein niedliches liebenswürdiges und ‚braves Mädchen‘ von der Art sein würde, wie es die Erwachsenen so gerne hatten“. So lernte sie schnell „die Weisheit und die Wirksamkeit des Widerstandes“ sowie „eine gesunde Skepsis gegenüber denjenigen, die die Regeln aufstellten“.

Mit vierzehn Jahren war das jüdische Mädchen nicht nur „eine politisch denkende Person“ geworden, sondern auch zur Agnostikerin herangereift. Vor dem Judenhass der deutschen und österreichischen Nazis konnte sie das natürlich nicht schützen. Und ihre Mutter gehörte zu denjenigen, die nach dem Anschluss der Alpenrepublik 1938 dazu gezwungen wurden, vor einer grölenden Meute mit Zahnbürsten antifaschistische Parolen vom Bürgersteig zu entfernen. „Wo immer solche abscheulichen Spektakel stattfanden“, erinnert sich Lerner, „freute sich die Menge der Schaulustigen, lachte und spendete Applaus.“ Der Judenhass der ÖsterreicherInnen sei sogar noch schlimmer gewesen als derjenige der nördlichen Nachbarn, betont sie mehrmals. „Den Deutschen musste man den gewalttätigen Antisemitismus erst beibringen; in Österreich brach er spontan aus. Ein paar Wochen nach dem Anschluss war die Situation der Juden in Österreich um vieles schlimmer als in Deutschland fünf Jahre nach der Machtübernahme der Nazis“. So zeigten ÖsterreicherInnen bei „der spontanen und improvisierten Verfolgung der Juden […] eine erstaunliche Vielseitigkeit und Erfindungsgabe und eine nie da gewesene Brutalität“.

Bald nach der Demütigung der Mutter sollte der Vater verhaftet werden. Doch konnte er aufgrund einer Warnung kurz zuvor fliehen. Daraufhin nahmen die Nazis seine Frau und seine älteste Tochter in Geiselhaft, um ihn so zu zwingen, zurückzukehren. Die Frauen wurden voneinander getrennt gehalten und die Tochter wurde in eine Zelle verfrachtet, die sie mit zwei etwa gleichaltrigen Sozialistinnen teilen sollte. Eine von ihnen war 1934 schon einmal wegen des Besitzes illegaler Flugblätter verhaftet worden. Es lässt sich wohl sagen, dass die Autorin in der Zeit ihrer Gefangenschaft durch die Schule dieser Zellengenossin ging.

Ihr Vater aber war trotz des Erpressungsversuchs klug genug, sich nicht in die Klauen der Nazis zu begeben. Nach einigen Wochen wurden die beiden Frauen gegen die Verpflichtung, das Land so schnell wie möglich zu verlassen, aus der Haft entlassen. „Diese Stunden und Wochen im Gefängnis“ erinnert Lerner als die „wichtigste Erfahrung meines Lebens“. Sie verliehen diesem „eine Form und Bedeutung, die zu verstehen ich mich von da an stets bemüht habe“.

Doch das Verlassen des Landes gestaltete sich nicht so einfach wie gedacht. Nach der Haftentlassung musste sie ein ums andere Mal bei diversen Behörden „stundenlang Schlange“ stehen, um eines der zur Ausreise notwendigen Dokumente zu erlangen – immer wieder erfolglos. Hatte sie jedoch einmal eines ergattert, verlor es im Laufe der Wochen, die es dauerte, ein weiteres nicht weniger notwendiges zu bekommen, seine Gültigkeit. Ein ewiger Kreislauf, der die „beabsichtigte Wirkung“ nicht verfehlte, „dass wir uns aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen fühlten“. Dabei ging es nicht einmal darum, dass die Betroffenen wie Menschen „zweiter Klasse“ behandelt wurden, es zielte vielmehr darauf, „dass man als Person nicht mehr existiert[e]“. Denn „ein Mensch ohne Bürgerrechte ist eine Person ohne Identität“. Ersonnen und geleitet hatte das perfide System Adolf Eichmann, der die Wiener Juden „als Versuchskaninchen für die bürokratischen Methoden nutzte, die er später so erfolgreich für die ‚Endlösung‘ anwendete“. Ergänzt wurde es durch ein auch aus Deutschland bekanntes Verfahren der Enteignung der jüdischen Bevölkerung: Deutsche wie ÖsterreicherInnen eigneten sich den Hausstand jüdischer Familien für ein Handvoll Münzen an. Die Familie Kronstein musste sogar Rechnungen ausstellen.

Im September 1938 konnten Frau Kronstein und ihre beiden Töchter Österreich endlich verlassen und ins – zunächst Liechtensteiner – Exil gehen, wo sich Robert Kronstein bereits eine neue Existenz aufgebaut hatte. Später lebte die Familie meist über verschiedene europäische Länder verstreut. Im gemeinsamen Exil waren zuvor trotz aller gegenseitiger Zuneigung in der Beziehung zwischen Tochter und Mutter immer stärkere Differenzen zu Tage getreten und die beiden Frauen hatten einander in einem „verwickelte[n] Tauziehen um Liebe und Kampf“ gegenüber gestanden. 1939, vor Gerda Kronsteins Abreise in die USA, sahen sie sich in Frankreich zum letzten Mal. Nach anfänglichem Zögern gelang es der Mutter später nicht mehr, ihrer Tochter nachzureisen. Den nationalsozialistischen Terror überlebte sie dennoch um einige wenige Jahre. 1948 starb sie nach längerem Leiden an Multipler Sklerose. Als Achtzehnjährige konnte die Tochter nur wenig Verständnis für ihre Mutter aufbringen, und es ist bewundernswert, wie die über achtzigjährige Autorin es vermag, sich in die junge Frau zu versetzen, die sie damals war. Nun gelingt ihr auch schon seit Längerem, was ihr damals noch versagt war, ihre Mutter zu verstehen, deren damalige Entscheidungen nachzuvollziehen und gutzuheißen: „Sie fühlte sich eingeschränkt durch ihre Rolle als Mutter und bürgerliche Dame; sie war enttäuscht von ihrer Ehe. Als Künstlerin war sie ihr Leben lang eine begabte Amateurin gewesen“. Erst – und nur – in Nizza habe sie zu der Malerin heranreifen können, die sie immer hatte sein wollen. Deshalb habe sie es vorgezogen, dort zu bleiben anstatt in die sicheren USA zu fliehen. „Letzten Endes“ habe sie sich damit „für einen freien Lebensstil und für schöpferische Arbeit“ entschieden.

Mit ihrem jüngeren Ego geht die Autorin hingegen ins Gericht: „In der anmaßenden Weisheit der Jugend wollte ich, dass sie meinem Entwicklungsmodell folgt“. Inzwischen wisse sie, „dass sie in ihrem Leben wirklich Erfüllung gefunden hat“. Die Entscheidung ihrer Mutter, sei „vernünftig und mutig“ gewesen. Denn nach dem sie sich von den bürgerlichen Familienfesseln befreit hatte, konnte sie in Nizza endlich eine „sinnvolle Liebesbeziehung“ leben und sich ihrer Arbeit als Malerin hingeben. Erst gegen Ende des Jahrhunderts sollte ihr Werk mit einer Einzelausstellung im Jüdischen Museum in Wien die verdiente Würdigung erfahren. Für die Künstlerin selbst war das mehr als ein halbes Jahrhundert zu spät.

Die Schuld der Überlebenden sei zu einem Klischee geworden, doch wie es sich anfühlt, sei etwas anderes, schreibt Lerner in Erinnerung an ihre Mutter. „Man kann eine Wand drum herum aufbauen; man kann Zement in sein Herz gießen; man kann auf den Gräbern tanzen. In Wirklichkeit lähmt sie einen. Diese unheilvolle Krankheit, die man ein Leben lang in sich trägt. Es ist mehr als die Schuld, überlebt zu haben. Es ist die Schuld missverstanden und falsch geurteilt zu haben, weil ich an absoluten Ansprüchen festhielt, während meine Mutter sich selbst in ihrer eigenen unnachahmlichen Weise befreite.“

Im April 1939 konnte Gerda Kronstein Europa endlich Richtung Amerika verlassen und ging in New York an Land, wo sie die nächsten Jahre leben sollte. Doch um Einreisen zu dürfen, hatte sie unterschreiben müssen, innerhalb einer Woche zu heiraten. Was sie denn auch tat. „Und damit verdankte ich der Einwanderungsbehörde in den USA eine unglückliche Ehe. Eineinhalb Jahre Kampf und Mühsal und schließlich die Scheidung“, merkt sie trocken an. Doch „aus einer gewissen Entfernung betrachtet“ sei dies kein zu hoher Preis dafür gewesen, Amerikanerin werden zu dürfen. Denn sie hatte sich „in das Land verliebt“.

Der Alltag des jungen Ehepaares war von der ständigen Sorge geprägt, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Die frischgebackene Ehefrau ließ sich zur Röntgen-Assistentin ausbilden. Doch sollte es noch einige Jahre dauern, bis ihr der Krieg eine entsprechende Arbeitsmöglichkeit eröffnen würde. Bis dahin legte sie sich ein kleines Regelwerk zurecht, um überhaupt Aussichten auf eine Anstellung zu bekommen: „Gib niemals zu, dass du so etwas wie eine Höhere Schule besucht hast. Sag nie, dass du ein Flüchtling bist; sag niemals, dass du Jüdin bist“. Und besonders wichtig ist es, gefälschte Empfehlungsschreiben vorzulegen.

Zu Beginn des Jahres 1940 konnte sie ihre erste Stelle antreten. Sie wurde Verkäuferin in einem Süßwarengeschäft, das einer jüdischen Familie gehörte, die wie sie selbst aus Wien geflohen war. „In Anbetracht der elitären Kundschaft“ hatte sie sich vor den Inhabern allerdings als Protestantin ausgeben müssen, da sie als Jüdin nicht eingestellt worden wäre.

In diese Zeit fallen auch die Anfänge von Lerners feministischer Bewusstwerdung. Diese wird jedoch nicht durch die Arbeitswelt geweckt, sondern durch das wohngemeinschaftliche Zusammenleben mit anderen Exilierten. So störte sie nicht nur die Einmischung aller in alles und das Fehlen jeglicher Privatsphäre, die das Leben noch schlimmer als „in einer großen Familie“ machten, sondern vor allem, „dass die Männer, wenn sie von der Arbeit kamen, im Wohnzimmer saßen und darauf warteten, dass die Frauen, die auch gerade erst von der Arbeit gekommen waren, das Abendessen zubereiteten“. Nach einem besonders harten Arbeitstag explodierte sie, als ein männlicher Mitbewohner, abends von ihr verlangte, für ihn zu kochen, obwohl er selbst arbeitslos war und den ganzen Tag Zeit genug gehabt hatte, das Essen zuzubereiten.

Für ihr künftiges Leben nicht weniger bedeutsam war, dass sie in dieser Zeit eine Tätigkeit begann, die „zunehmend wichtig“ werden sollte. Sie fing an zu schreiben. Zunächst kurze englische Gedichte, deren „Versstil“ sich an Bertolt Brecht orientierte, „einfach weil ich keinen anderen kannte“. Im September 1941 wurde erstmals eine Erzählung von ihr veröffentlicht: „Gefangene“ erschien in der kleinen literarischen Zeitschrift „‚The Clipper“.

Und eine dritte nicht weniger einschneidende Entwicklung bahnte sich in dieser Zeit an. Während ihre Ehe nur noch auf dem Papier bestand, hatte sie die Liebe ihres Lebens kennen gelernt: Carl Lerner. Als sie endlich von ihrem ersten Ehemann geschieden war, heiratete sie den Filmcutter. Seit der Veröffentlichung ihrer ersten Story war gerade ein Monat verstrichen. Und nach zwei weiteren traten die USA in den Zweiten Weltkrieg ein, was für Gerda Lerner bedeutete, dass sie nun als „feindliche Ausländerin“ galt. Denn die lange ersehnte amerikanische Staatsbürgerschaft sollte sie erst 1943 erhalten. Als der Krieg in Europa zuende ging, begann in Amerika ein neues Leben. Lerner gebar ihre erste Tochter und gab ihr den Namen Stephanie Jean.

Bekanntlich dauerten die Kämpfe im Fernen Osten noch bis in den Herbst hinein. Erst nach dem Abwurf zweier Atombomben kapitulierte der japanische Kaiser, und die Lerners begannen angesichts des atomaren Infernos in der Friedensbewegung zu arbeiten. In der Folge dieser Aktivitäten trat das Ehepaar 1946 in die Kommunistische Partei ein. Das sie trotz zunehmender Ernüchterung längere Zeit Mitglieder blieben, lastet die Autorin der „Hysterie des Kalten Krieges“ an, ohne dessen „extreme Ausmaße“ sie die Partei nicht erst 1956 verlassen hätte. Doch in der Zeit des Kalten Krieges und McCarthys „abzuspringen schien uns als widerlichster Opportunismus“. Als anlässlich des Ungarnaufstandes und dessen Niederschlagung „absehbar“ wurde, dass eine parteiinterne Auseinandersetzung in den USA mit dem Sieg der „doktrinärsten Stalinisten“ enden würde, hielt sie jedoch nichts mehr.

1948 hatte sie jedoch noch weit weniger klar gesehen. Im Herbst des Jahres nahm sie am dritten Weltkongress der „Women’s International Democratic Federation“ in Budapest teil. Den Aufenthalt in Ungarn nutzte sie zu einem Besuch bei einer der Cousinen ihrer Mutter, deren schreckliche Berichte etwa über den antisemitischen Alltag in krassem Widerspruch zu den Potemkin’schen Dörfern standen, die für die Delegierten des Kongresses aufgebaut worden waren. Sie schenkte ihrer Verwandten jedoch keinen Glauben, sondern war überzeugt, sie sei „paranoid“, „vermutlich sogar halb verrückt“. Kurz gesagt, sie hielt sie für „eine Reaktionärin“. Heute ist Lerner hingegen „entsetzt über mein damaliges Verhalten“, weil sie „mein Herz gegenüber ihrem Menschsein und ihrem Leiden verschlossen habe“.

1946 war Lerner nicht nur in die KPUSA eingetreten, sondern auch Mitglied des „Congress of American Women“ (CAW) geworden, der seit den 1930er-Jahren die einzige Frauenorganisation war, die „feministische Ziele mit der Arbeit für Frieden verband“. Im Rückblick erkennt sie, dass ihr Interesse an der Geschichte der amerikanischen Frauen und ihre spätere Karriere als Historikerin „ihre Wurzeln in dieser Periode haben und auf die Art zurückzuführen sind, in der der CAW beständig und konsequent die Frauengeschichte in seine Arbeit einbezog“. Zudem ließ sie die Arbeit in CAW den Umgang der KP mit ihren weiblichen Mitgliedern zunehmen kritisch sehen.

Die Tätigkeit ihres Mannes als Cutter hatte sie schon bald von New York nach Hollywood geführt, wo die Lerners in ständiger Furcht lebten, wie so viele ihrer Freunde, Bekannte und Mitstreiter vor McCarthys „Komitee für unamerikanische Aktivitäten“ (HUAC) gezerrt zu werden, das im Oktober 1949 auch gegen den CAW zu ermitteln begann, der dem Druck schließlich nicht standhalten konnte. Lerner ist überzeugt, dass der „‚Congress of American Women‘ aus keinem anderen Grund zerstört [wurde] als dem, dass wir eine wirksame oppositionelle Stimme gegen die Politik des Kalten Krieges waren“.

Besonders die frühen Jahre der McCarthy-Herrschaft, die Zeit von 1947-1949, lasten noch heute „wie Felsbrocken“ auf Lerners Erinnerung. „Sie verdunkeln die klare Bildsicht; sie verwirren die Erinnerung und das Gedächtnis, so wie Felsen das Licht verdunkeln“. Dass sie die Verfolgung durch den Jäger vermeintlicher und tatsächlicher Kommunisten seinerzeit als mindestens ebenso bedrohlich empfand wie diejenige durch die deutschen Nazis, erklärt sie sich heute mit Forschungsergebnissen, die besagen, „dass schwer traumatisierte Personen ihr Trauma noch einmal und noch intensiver und unter noch größerem Schrecken wieder erleben, wenn sie einen neuen seelischen Schock erfahren“. So erging es ihr, als sie in der McCarthy-Ära eine „Neuauflage des aufkommenden Faschismus“ zu erkennen glaubte, denn es „fühlte sich auch genauso an“. Aus Angst vor Verfolgung und davor andere zu belasten, hat Lerner in der Zeit der Verfolgung zahlreiche Publikationen und Korrespondenzen verbrannt. Heute bedauert sie das sehr, „weil ich, indem ich es tat, mithalf, diese Angst aufrechtzuerhalten. Und was noch schlimmer ist, ich half mit, Erinnerung zu vernichten“. Hier spricht natürlich auch die Historikerin.

Da McCarthys Fangarme zwar jedes Studio in Hollywood umschlangen, jedoch nicht jeden New Yorker Wolkenkratzer, zogen die Lerners wieder in die Ostküsten-Metropole. Denn dort hatte „die Maschinerie rund um die schwarzen Liste nie mit derselben tödlichen Präzision gearbeitet wie in Hollywood“. Allerdings hatten sie das Pech, ausgerechnet bei einem Vermieter zu landen, der sich als Mafioso entpuppte, womit sie sich wieder unter staatlicher Beobachtung fühlten oder wussten.

Doch immerhin bekommt Lerners Mann nun wieder einen Job und auch ihre eigene Arbeit an dem Roman „No Farewell“ („Es gibt keinen Abschied“) kommt voran, so dass sie ihn 1951, nach zwölf Jahren, beenden kann. Doch die Enttäuschung folgt auf dem Fuß. Denn alle amerikanischen Verlage lehnten das Manuskript ab. Daher entschloss sie sich, ihn ins Deutsche zu übersetzen und einem österreichischen Verleger anzubieten – mit Erfolg.

Jede Generation habe wohl ein bestimmtes Ereignis, „das junge Menschen für ihr ganzes Leben politisch prägt“, mutmaßt Lerner und nennt unter anderem den Prozess gegen Sacco und Vanzetti, den Freiheitsmarsch in Selma/Alabama und die durch die von der Nationalgarde ermordeten Studierenden der Kent-State-University. Bei ihr war es der Fall Rosenberg. In der Nacht der Hinrichtungen nahm sie an der Totenwache vor dem Gefängnis teil und noch heute ist sie von der Unschuld des Ehepaares überzeugt.

Die letzten Seiten der Autobiografie eilen durch die zweite Hälfte der 1950er-Jahre, bis die Autorin 1958 ankommt, dem Jahr, in dem sie 38 Jahre alt wurde und beschloss, „ein paar Lehrveranstaltungen an der Universität zu besuchen und eine neue Art des Schreibens zu finden“. Denn sie wollte einen neuen, einen historischen Roman beginnen. Er „sollte die Geschichte von Angelina und Sarah Grimké erzählen, der beiden Töchter des Plantagenbesitzers in den Südstaaten, die zu Vorreiterinnen im Kampf gegen die Sklaverei und für die Frauenrechte wurden“. Nachdem sie bereits acht Kapitel geschrieben hatte, legte sie das Roman-Manuskript zur Seite und begann „mit einer richtigen historischen Biographie“ über das Schwesternpaar „noch einmal von vorne“. Damit war der Grundstein für die Karriere einer der prominentesten HistorikerInnen gelegt, die zudem als Begründerin der Women’s Studies zu wohlverdientem Ruhm gelangen sollte.

„Man hört nicht auf, die Vergangenheit im Licht gegenwärtiger Einsichten umzugestalten, und daher ist das, was man niederschreibt, keine Sammlung von Tatsachen, sondern eine Geschichte“, räsoniert Lerner zu Beginn ihrer Autobiografie. „Im schlimmsten Fall“ entstehe ein „erklärender Mythos“, „im besten“ eine „unterhaltsame Erzählung“.

Was aber hat sie selbst vorgelegt? Zweifellos letzteres. Und zudem ein rundum sympathisches Buch, was ja bei einem Werk des Genres Autobiografie nicht ganz unwichtig ist. Doch auch in jeder anderen Hinsicht verdienen Lerners Lebenserinnerungen das höchste Lob. Ein Jammer allerdings ist, dass das Buch keine Bilder enthält. Denn sie sind das Salz in jeder (auto-)biografischen Suppe.

Titelbild

Gerda Lerner: Feuerkraut. Eine politische Autobiographie.
Czernin Verlag, Wien 2009.
515 Seiten, 27,00 EUR.
ISBN-13: 9783707602906

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