Allein auf weiter Flur

In Gerbrand Bakkers Romandebüt „Oben ist es still“ überwiegen die leisen Töne – mit Gewinn

Von Meike BlatzheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Meike Blatzheim

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt einen Satz von Anton Tschechow, der es zum Klassiker brachte: „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, wird es im letzten Akt auch abgefeuert.“ Das Gewehr in Gerbrand Bakkers Roman „Oben ist es still“ hängt zwar nicht an der Wand, sondern lehnt an einer Standuhr, geschossen wird aber trotzdem – auch wenn der Schuss am Ende nicht den trifft, von dem der Leser es erwartet hätte und der Nachhall so ziemlich allein auf weiter Flur bleibt, genauer: in nordniederländischer Weite.

Denn das Leben Helmer van Wonderens, Mitfünfziger, Bauer und Ich-Erzähler in Bakkers Debüt, wird von der Stille beherrscht. Eigentlich hätte er studieren und den elterlichen Hof verlassen sollen – doch dann kommt sein Zwillingsbruder Henk, der Hoferbe, bei einem Unfall ums Leben. „Du bist fertig da unten in Amsterdam“, bestimmt der Vater und für Helmer, der die Dinge nimmt, wie sie kommen, beginnt eine Zeit des Stillstands. 1967, das Todesjahr des Bruders, bleibt sein Fixpunkt und der Vater der Herr im Haus. „Ich bin nur Pächter,“ sagt Helmer, „und ich mache die Arbeit, die ein anderer hätte tun sollen.“

Doch nun umschwirrt eine Nebelkrähe den Hof wie ein Todesbote, der Vater ist alt, kränklich und längst bettlägerig geworden. Helmer beschließt, ihn „nach oben“ zu schaffen, und wie in einer – in Zeitlupe ablaufenden – Kettenreaktion kommt eines zum andern. Erst ist es nur eine neue Wandfarbe im Schlafzimmer und ein neu erstandenes Doppelbett, eine verwitterte Dänemarkkarte, die Helmer in einem Antiquariat ersteht, und ein Brief von Riet, der ehemaligen Verlobten des Bruders. Dann ist es Henk, Riets halbwüchsiger Sohn, der den Namen des toten Bruders trägt und für einige Monate auf dem Hof aushelfen soll. Henk, der morgens nur unwillig aufsteht und zu viel raucht, der kocht und nicht versteht, warum Helmer keinen Fernseher besitzt. Der aber auch Angst vor dem Alleinsein hat und einmal sagt: „Wenn man einen Zwillingsbruder hat, kennt man so was nicht. Dann ist man immer zu zweit.“ Wenn man einen Zwillingsbruder hat, ist man nur ein Teil des Ganzen, könnte Helmer hinzufügen, der auch nach fast vier Jahrzehnten noch an den Bruder denkt, wenn er seinen eigenen Namen hört: „Wenn mich jemand bei meinem Namen nannte, Helmer, dachte ich mir immer ‚Henk und‘ davor. Immer. Unsere Namen gehörten zusammen, wie Peek und Cloppenburg, wie Kanis und Gunnik, wie Van Gend und Loos.“

Die Beziehung zu Bruder und Vater, die Abgelegenheit und Einsamkeit, der Verlust und der Tod, sind die großen Themen in Bakkers Roman. Wie der gleichmäßige Wechsel der Jahreszeiten gleitet Helmers Leben dahin – und diese Gleichförmigkeit findet ihre Entsprechung in Bakkers schlichter Sprache, dem unterkühlten Tonfall, der Lakonie des Erzählens. Vor dem inneren Auge entsteht beim Lesen die flache niederländische Landschaft, fast wie auf einem Gemälde Jan van Goyens: ein kleiner Hof, ein Eselsstall, ein paar Schafe auf der Weide, der graue Himmel darüber. Helmers Leben birgt kein Tragikpotenzial, und auch der Tod ist nichts, vor dem man sich zu fürchten hätte – so wie die tote Ente, die Helmer und Riet bei einem Spaziergang entdecken: „Vor dem Tor steht nur noch eine der Enten. Die andere ist totgefahren worden, der warme Körper auf der Straße dampft noch ein wenig. So geht das, gerade ist man noch springlebendig und wünscht sich ein Stück Brot, und im nächsten Augenblick ist man mausetot.“

Bei so viel Gelassenheit kann man als Leser schon mal ungeduldig werden. „Mach endlich was aus deinem Leben!“, möchte man Helmer zurufen. Auch klingen die Dialoge bisweilen etwas hölzern, ebenso die eingestreuten Briefe Riets, die den Handlungsfluss mehr stören, als ihn voranzubringen. Der Erzählton des Romans ist nun einmal genauso wenig zeitgemäß wie sein Held – und gerade dadurch eine willkommene Abwechslung im Einheitsbrei der Gegenwartsliteratur.

Die Stille nach dem Schuss jedenfalls ist bald wiederhergestellt. Es hat sich etwas verändert in Helmers Leben, er hat einen Weg abseits der Geister der Vergangenheit gefunden. Und so kommt es, das Bakkers Debüt mit einem Satz endet, den man nur selten zuvor mit so positivem Beiklang gelesen hat: „Ich bin allein.“

Titelbild

Gerbrand Bakker: Oben ist es still. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Andreas Ecke.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
316 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420133

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