Zertrampelte Brusthaufen

Die Österreichische Gesellschaft für Germanistik suchte auf ihrer Jahrestagung 2008 nach der „Lust im Text“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich macht der (dekonstruktive) Feminismus im hierarchisch organisierten Dualismus ein seit der Aufklärung die westliche Welt dominierendes Ordnungsschema aus. Damit hat er nicht Unrecht, auch wenn er gelegentlich dazu neigen mag, dessen Herrschaft allzu absolut zu setzen. Dabei hatte die Schriftstellerin und Philosophin Else Jerusalem bereits 30 Jahre vor dem Erstarken der Zweiten Welle der Frauenbewegung ein ganz anderes Ordnungsschema auf den Sockel gehoben, als sie in „Trieb“, „Tat“ und „Wirkung“ die „drei Grundkräfte“ allen (Da-)Seins ausmachte, die sich in einem Vierten, dem „Trieb zum Sein“, zusammenschlössen, der sich zugleich in einem jeden der drei Momente manifestiere. Entsprechend der „Formel der Trinität“, die „seit Urzeiten die geistige Entwicklung der Menschheit begleitet und beherrscht“, seien die Grundkräfte oder auch „Grundformen“ somit „Drei in Eins“. Denn „[v]on welchem Standpunkte aus man die Trinität betrachtet, sei es als Religion, als Kosmogonie oder Ideenlehre – immer und überall – und das ist das Wesentliche – zeigt sie einen Mittelpunkt auf, von dem aus die Dreiheit durchleuchtet, getrennt und wieder in Eins geschlossen werden kann.“ Erst dieses „Ineinanderwirken“ vermöge „die volle Macht der Göttlichkeit oder der Idee zu repräsentieren, während sie als Teilexistenzen unvollkommen sind und sich in Abhängigkeit zueinander befinden.“

Damit hatte Else Jerusalem 1939 nicht nur ein umfassendes metaphysisches Konzept ausgemacht – beziehungsweise entwickelt –, das der späteren feministischen Vorstellung widersprach, die besagt, es sei ein hierarchisches Dualitätsprinzip, das Denken und gesellschaftliche Formen durchdringe, sondern zugleich ein Ordnungsschema vorweggenommen, dessen Entdeckung der Marburger Philosoph Reinhard Brandt gegen Ende des 20. Jahrhunderts in seinem Buch „D’Artagnan und die Urteilstafel“ (1991) für sich in Anspruch nehmen sollte.

Abgesehen davon, dass Brandt weit elaborierter als Jerusalem argumentiert, und geradezu eine Fülle an Fallbeispielen über den Lesenden ausschüttet, dürfte er deren Buch „Die Dreieinigkeit der menschlichen Grundkräfte“ während der Abfassung des eigenen Werkes kaum gekannt haben. Denn Jerusalems Buch war nicht nur im Schweizer Exil erschienen, sondern hatte zudem das Unglück, dass sein Erscheinungsjahr mit dem Jahr zusammenfiel, in dem die Nazis begannen, ihren Terror über ganz Europa auszubreiten, was nicht unwesentlich dazu beigetragen haben dürfte, dass ihre Philosophie nicht einmal die Chance bekam, vergessen zu werden. Denn so richtig bekannt wurde sie nie.

Sehr bekannt geworden war Anfang des 20. Jahrhunderts allerdings ein anderes Buch von ihr: Ein voluminöses literarisches Werk von fast 700 Seiten mit dem Titel „Der heilige Skarabäus“ (1909), das seinerzeit als Bordell-Roman einerseits sofort skandalisiert worden war, andererseits aber auch hohe Auflagen erreicht hatte. Zwar wurde dieses Werk der Schriftstellerin ebenfalls von den Nazis geächtet, doch ganz vergessen wurde das Buch nie – vor dessen stark gekürzter Neuauflage von 1954 allerdings nachdrücklich gewarnt werden muss. Und seit der im Zuge der Zweiten Frauenbewegung einsetzenden feministischen Literaturwissenschaft ist der Roman auch immer mal wieder Objekt einschlägiger Forschungstexte. Den jüngsten hat nun Alexandra Millner unter dem Titel „Von bewegten Brüsten, durchglühten Körpern und dem Lächeln der Sphinx“ beigesteuert. Neben Jerusalems Roman geht die Wissenschaftlerin auf Werke von Helene von Druskowitz, Elsa Asenijeff und vor allem auf Maria Janitscheks 1902 erschienenen Novellenband „Die neue Eva“ ein, aus dessen „leichtfüßig wirkenden, ironisch überspitzten Texten“ die Autorin zurecht „manches feministische Konzept“ hervorblitzen sieht, das „zum Teil radikal zu Ende gedacht“ wird. Janitschek gelingt dies, so kann man anfügen, ohne dass ihre heute noch lesenswerten Novellen jemals auch nur Gefahr liefen, plump-programmatisch zu wirken. Alleine schon, weil sie dazu viel zu ambivalent sind und nie eindeutige oder gar schlichte Lösungen offerieren. Zudem zielt die von Millner erwähnte Ironie nicht selten vor allem auf das weibliche Personal der Novellen.

Erschienen ist Millners Aufsatz in einem Sammelband zur Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik 2008, die zugleich als „Österreichisch-Polnisches Germanistentreffen der Literaturwissenschaftler“ diente. Bevor sich die siebenundzwanzig Beitragenden zu Wort melden, führen die beiden Herausgeberinnen Kalina Kupczynska und Doris Moser mit „Nachschau und Überblick“ in den unter dem Thema „Eros in Sprache und Literatur“ stehenden Band ein, dessen Titel „Die Lust im Text“ Thomas Anz zitiert, der in seiner Studie „Literatur und Lust“ vor einigen Jahren darlegte, dass „die sexuelle Lust am Text […] in erster Linie durch die Darstellung sexueller Lust im Text vermittelt“ wird. Da es die beiden Herausgeberinnen verstanden haben, einen launigen Text zu fabrizieren, tritt an die Stelle des drögen Lektüreerlebnisses, das solche Einleitungstexte den Lesenden meistens aufnötigen, fast so etwas wie unterhaltsame Leselust. Das Herausgeberinnen-Duo hat die Beiträge in vier Abteilungen gegliedert, welche die vielleicht nicht immer ganz glücklichen Titel „Praeludium“, „Variatio delectate“, „In eros veritas“ und „… interuptus“ tragen.

Wie revolutionär die Literatur der von Millner untersuchten Autorinnen seinerzeit nicht zuletzt alleine schon durch den geschlechtlichen Perspektivwechsel war, zeigt sich bereits im unmittelbar anschließenden Aufsatz, der den „galizischen“ und „polnischen Geschichten“ Leopold Sacher-Masochs gilt und von Maria Kłánska verfasst wurde. Auch sämtliche weiteren Beiträge, dieser zweiten, durch Millners Aufsatz eröffneten Rubrik gelten ausschließlich männlichen Autoren der Zeit – und das macht die Sache dann doch einigermaßen bedenklich. Von neun Texten widmet sich nur einer, eben der von Millner, diversen Literatinnen, während sich die anderen ausnahmslos mit deren männlichen Kollegen befassen. Wolfgang Müller-Funk interessiert sich etwa für das „durch und durch misogyne Werk“ Joseph Roths, Walter Fanta unterrichtet die Lesenden „[ü]ber den Ausgang der letzten Liebesgeschichte bei Robert Musil“ und Marta Wimmer glaubt bei Schnitzler „deutlich die Einflüsse der Weiblichkeitstheorie von Weininger“ ausmachen und den „Eros hinter der Bürgerlichen Fassade“ des Fräulein Else entdecken zu können, die – und zumindest hier liegt die Autorin richtig – „ein typisches Opfer der männlichen Welt“ sei.

Geht Kłánska den erotischen und sexuellen Passionen Sacher-Masochs nach, so widmet sich Janusc Golec mit Albert Ehrenstein einem Autor, dessen Gedichtzeilen eher Ausflüsse von Fantasien eines berühmt-berüchtigten Gefangenen sein könnten, der seine Sadismen zu einem Gutteil in der Irrenanstalt von Charenton verfasste. „möge ein Nashorn / euch Haarweibern / die Brusthaufen zertrampeln!“ wünscht sich Ehrenstein in einem seiner Gedichte, und auch seine Prosa ist nicht weniger misogyn: „Die sogenannten anständigen Frauen machen viel zuviel Geschichten eh sie endlich die Beine auseinandergeben“, beschwert er sich etwa. Das erinnert soweit noch vage an Friedrich Schiller, der sich in seinem Ärger über Johann Wolfgang von Goethe an der Fantasie erwärmte, ihn wie eine stolze Frau zu schwängern, um ihn zu demütigen. Ehrenstein aber setzt noch einen drauf, indem er seiner Klage eine weitere folgen lässt: „Und präsentieren dann als Offenbarung ein verstunkenes Stück Fleisch.“ Wie Golec anmerkt, meinte Ehrenstein-Herausgeber Karl Otten 1961, die „erotische Dichtung von Ehrenstein“ zeuge von einem Autor, „dem nichts Weibliches fremd“ sei.

In den beiden letzten Teilen „In eros veritas“ und „… interuptus“ ist das Geschlechterverhältnis hinsichtlich der behandelten AutorInnen ausgeglichener als im zweiten. So wird Marlene Streeruwitz gleich mit zwei Beiträgen gewürdigt. Artur Pełka versucht dem „‚Dingsbums‘ in Marlene Streeruwitz’ Partygirl. und Jessica. 30.“ auf den Grund zu gehen und Anna Rutka beleuchtet die „Entkolonialisierung der Erotik“ in den Romanen von Österreichs zweitberühmtester lebender Schriftstellerin. Zuvor aber sucht und findet Monika Szczepaniak Manifestationen von Ingeborg Bachmanns Interesse am Blaubart-Mythos nicht erst in dem Nachlassfragment „Das Buch Franza“, sondern bereits in der Erzählung „Ein Schritt nach Gomorrha“, in der die Figur Charlotte der Autorin zufolge die „Blaubärtin“ gibt.

Österreichs berühmtester Schriftstellerin wendet sich Rita Svandrlik zu, die am Beispiel Elfriede Jelineks über die „Unlust am Lesen“ und den „Genuss am Text“ räsoniert, was sie zu dem Schluss führt, dass es in „Lust“, dem sicher bekanntesten Roman der Nobelpreisträgerin, „nicht um den erotisch-sexuellen Gegenstand auf der Inhaltsebene gehen kann, sondern um die ästhetische Gestalt des Textes, d.h. es geht um den Textkörper“.

Stefan Neuhaus geht in einem der letzten Beiträge hingegen der „Funktionalisierung von Erotik und Sexualität in der Gegenwartsliteratur“ nicht ganz so bekannter LiteratInnen nach und zeigt, dass Autoren wie Benjamin Lebert und Bernhard Schlink „Tabulosigkeit inszenieren, um das ‚viktorianische‘ (Foucault) Dispositiv von Sexualität zu reetablieren“ und „traditionelle Frauen- und Männerbilder [zu] aktualisier[en]“ Ein „konservativer Trend“, der durch einen Blick in „populäre Zeitschriften und Diskursforen“ bestätig werde. Doch immerhin vermeldet Neuhaus auch einige literarische Texte, „die mit dem sexuellen Dispositiv ein ironisches Spiel treiben und es so subvertieren.“ Helmut Krausser und Wolf Haas haben sie verfasst.

Insgesamt kann man dem Band bescheinigen, dass er manch erhellendes Licht auf die vielfältigen und nicht selten dunklen Facetten der Lust (im Text) wirft.

Titelbild

Doris Moser / Kalina Kupczynska: Die Lust im Text. Eros in Sprache und Literatur.
Praesens Verlag, Wien 2009.
438 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783706905398

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