Mit Heidegger im KZ

Terrence Des Pres’ Studie „The Survivor“ ist endlich auf Deutsch erschienen

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es hat lange gedauert, bis „The Survivor“ ins Deutsche übersetzt worden ist. Im angloamerikanischen Raum wurde diese Studie nach ihrem Erscheinen 1976 zum Standardwerk der sich entwickelnden „Holocaust-Studies“. Es sieht bislang nicht so aus, als würde über 30 Jahre später „Der Überlebende“ überhaupt ein mediales Echo in Deutschland finden.

Als „The Survivor“ veröffentlicht wurde, gab es einen kleinen Aufruhr, denn es folgte eine – teilweise polemisch geführte – Debatte zwischen dem Autor und Bruno Bettelheim. Die Auseinandersetzung blieb innerakademisch und auf den angloamerikanischen Raum beschränkt. Des Pres kritisiert Bettelheims Blick auf KZ-Insassen in dessen Aufsatz „Individual and Mass Behavior in extreme Situations“, der bereits 1943 im „Journal of Abnormal and Social Psychology“ erschienen war, sowie in dessen Buch „The informed Heart“ von 1960 (deutsch „Aufstand gegen die Masse“). Bettelheim reagierte mit einer heftigen Gegenkritik in „The New Yorker“ vom August 1976; Des Pres antwortete noch ein letztes Mal drei Jahre später in der Zeitschrift „Social Research“, wobei er auch Bettelheims inzwischen erschienenen Sammelband „Surviving and other Essays“ (deutsch „Erziehung zum Überleben“) mit berücksichtigte.

„The Survivor“ war eine Neuerung, weil diese Studie auf der Grundlage von Überlebenden-Literatur nicht nur ein genaues Bild, sondern überhaupt erst ein Bild vom Leben, Sterben und Überleben in den Lagern entwarf. Dadurch ist sie tatsächlich noch immer eine „Arbeit von einzigartiger Kraft“, wie der Literaturprofessor Lawrence L. Langer seinerzeit schrieb, die auf einer „unbeirrbaren Präsentation des Undenkbaren“ basiert. Auch wenn er selbst kein Überlebender war, so hat Des Pres es doch geschafft, die Welt von Auschwitz gedanklich zu durchdringen.

„Der Überlebende“ ist keine psychologische Untersuchung und auch keine soziologische Studie über das Verhalten von Menschen im KZ, sondern ein Tableau des Dahinvegetierens und des Sterbens. Des Pres’ Werk gehört nicht zu den Büchern, die erklären wollen; die das KZ aus vorhergehenden gesellschaftlichen Tendenzen resultieren lassen oder die das Verhalten der Täter wie der Opfer soziologisch oder psychologisch, sei es aus ‚der Extremsituation‘, sei es aus ‚gesellschaftlichen Gründen‘, herleiten wollen. Sein Buch ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Blick auf die Tat freigelegt wird, sobald die Frage nach dem „Warum?“ (die auch Claude Lanzmann und Emil Fackenheim aus guten Gründen ablehnen) nicht mehr gestellt wird.

Vor allem in dem überaus beeindruckenden Kapitel „Excremental Assault“ (das für die deutsche Ausgabe leider fahrlässig frei und tendenziös mit „Die Vernichtung der Seele“ übersetzt wurde), wird deutlich, dass in Auschwitz all das, was ein Exemplar der Spezies homo sapiens zum Menschen macht, verneint wurde. Der Mensch wurde nicht „vertiert“, wie man voreilig sagen könnte: denn kein Tier ‚lebt‘ in einem hölzernen Gestell, das ein Bett sein soll, in seinem eigenen Eiter und seinen eigenen Exkrementen sowie denen seiner ‚Bettgenossen‘ neben und über ihm. Entmenschlichung wird bei Des Pres als Attacke auf den menschlichen Körper so deutlich wie sonst vielleicht nur im Werk Charlotte Delbos. In den Körper sollte eingezeichnet werden, dass der Lagerinsasse kein Mensch sei. „Entmenschlichung“ ist hier keine leichtfertig gebrauchte Metapher, die der Beförderung von Empörung dient, und die dann doch nur ‚Misshandlung‘ meint. Sondern „Entmenschlichung“ bezeichnet hier genau das, was das Wort sagt: vom Menschen sollte abgezogen werden, was die Kreatur erst zum Menschen macht. Auschwitz war die Abdeckerei für die Metaphysik, die die bloße Natur transzendiert. Indem sie die Metaphysik fortrissen, konnten die Deutschen bis zu den tieferen und primitiveren Schichten des Denkens, der Ontologie, durchdringen und in sie ihre Kerben schnitzen. Dies hinterließ bei manchen die Verwirrung, dass Auschwitz etwas über den ‚Menschen an sich‘ gesagt hätte. So auch bei Des Pres; aber dazu später mehr.

Des Pres psychologisiert die Ablehnung desjenigen, der bloß überlebt hat: dieser rühre an etwas Schreckliches, das in jedem von uns lauere. Der Überlebende lege die Wahrheit jeder menschlichen Existenz offen, in der es immer nur ums eigene Überleben gehe; nur werde diese Tatsache nicht immer offenbar. Das Extreme wolle man deswegen nicht zur Kenntnis nehmen. „Ein Stück Auschwitz“, so Des Pres, sei „in jedem verborgen, als ein Bild, das die dämonischen Inhalte unserer schlimmsten Ängste und Wünsche berührt.“

Er entwarf seine Studie des Überlebenden bewusst in Kontrast zu dessen bis in unsere Gegenwart vorherrschenden Bild. Das bloße Überleben, so Des Pres, sei nicht angesehen, denn beliebt sei das Heroische, und als heroisch gelte das Sterben. Bewunderung erfährt der tragische Held, welcher den Sieg durch seinen Tod erringt. Der tragische Held muss zwar gegen sein Schicksal kämpfen und sich schließlich in dieses fügen, hat aber noch insofern die Kontrolle, als er über sein Sterben bestimmen kann. Dies sei in Auschwitz hinfällig geworden. Die Situation des Überlebenden sei ausweglos gewesen, weder habe er Kontrolle über seine Lage gehabt, noch irgendeine Wahl. Er sei zu Unrecht verurteilt gewesen, sein Sterben habe in keinem Zusammenhang mit seinem Leben gestanden. Sein Tod sei elendig gewesen und sein Sterben habe nicht seine Zustimmung gefunden. „Choiceless choice“, so fasst Langer es zusammen – und damit hätte eine von der Realität weitgehend unberührte Moral-Debatte über das Verhalten der Verfolgten beendet sein können, die seit Hannah Arendt und Bettelheim immer wieder geführt wird, in unseren Tagen mit dem radikalen und existenzialistischen Gestus von Tzvetan Todorov und Giorgio Agamben.

Das Leben im Lager sieht Des Pres von einer ausgeprägten Kollektivität bestimmt: kollektiv seien sowohl die Leidenserfahrungen sowie das Überleben des Lagerinsassen. „Erinnerung und Selbst [des Häftlings] wurzeln oft in traumatischer Weise in Ereignissen, die das Individuum nicht als Individuum, sondern als Teilnehmer oder Verkörperung einer bestimmten historischen Erfahrung definieren.“ Dazu passend meint Des Pres feststellen zu können, dass die Überlebenden-Berichte erstaunlich weit und häufig übereinstimmten. Wenn viele Menschen auf ihr bloßes kreatürliches Menschsein reduziert werden, dann würden sie und ihre Berichte natürlicherweise einander gleich. Deswegen sprächen individuelle Berichte für viele andere, und die Überlebenden erhöben deswegen nicht nur den Anspruch, den Toten ihre Stimme zu leihen, sondern sie könnten dies auch tatsächlich.

Das Überleben habe unter dem Bann einer „schrecklichen Paradoxie“ gestanden, denn die Häftlinge „überlebten, indem sie halfen, den Lagerbetrieb am Laufen zu halten“. Anders als Bettelheim löst Des Pres diese Ambivalenz aber nicht nach einer Seite hin auf, um die Überlebenden dann moralisch zu verurteilen. Sondern er betont, dass Eigeninteresse einerseits und Fürsorge und Anstand andererseits unlöslich miteinander verknüpft gewesen seien. Die in den Lagern existierende gegenseitige Hilfe sei angesichts des Bösen nur verblasst. Zum anderen sei sie Erzählstrategien der Überlebenden zum Opfer gefallen, die verständlicherweise versucht hätten, vor allem das Grauen zu bezeugen. Des Pres betont, dass im Lager eine soziale Ordnung geherrscht habe, selbst in der so genannten „Grauzone“.

Auch der Widerstand in den Lagern habe aus einem Zugleich von Gegensätzen, von Arrangement und Widerstand, bestanden. Nach außen hin habe man sich anpassen müssen, nach innen hin aber habe man Widerstand geleistet. „Weiterzuleben hieß, die Praktiken des Feindes übernehmen.“ Das, worin Widerstand besteht, müsse für Auschwitz neu konzeptioniert werden. Wenn die Vernichtung der Juden die Absicht der Deutschen war, dann bedeutete bereits das immer-noch-Leben im KZ bereits Widerstand. Des Pres bemühte sich aber nicht nur darum, auf Grundlage einer bis dahin einmalig breiten Basis von Überlebenden-Zeugnissen ein differenziertes Bild vom Sterben und Überleben in den KZs zu zeichnen. Ihm ging es auch darum, einer „speziellen Botschaft des Überlebenden“ Gehör zu verschaffen. Diese besteht für ihn allerdings nicht nur in dem, was ein Überlebender selbst sagt, sondern in dessen Erfahrung, der Des Pres eine Botschaft zuspricht. Da das Leben des Häftlings auf das bloß kreatürliche Vegetieren reduziert und da sein Leben dem Zufall unterworfen war, könne sein Verhalten in dieser Situation nicht „allein mit Vernunft erklärt werden“.

Deswegen macht Des Pres sich daran, andere Instanzen ausfindig zu machen, die das Überleben erklären sollen und die von ihm auf unterschiedliche Weise bestimmt werden. Für ihn steht fest, dass es eine „Instanz gibt, die jenseits des Willens funktioniert“, „etwas, das anders und größer ist als das persönliche Ego“, eine „Qualität“, ein „Potential, das in extremer Not aktiviert und als Urgrund des Selbst erlebt wird“.

Der logische Status seiner Konzeption wechselt zwischen Ontologie, Anthropologie und Biologismus hin und her. Er verfällt auf ontologische Bestimmungen, wenn er Menschen im Lager „auf ihr unmittelbares physisches Sein reduziert“ sieht. Diese Reduktion habe aber, so grauenhaft sie auch sei, auch ihr Gutes: sie liefere nämlich „eine Lehre für die Seele, ein Herauskristallisieren jener menschlichen Wesenheit, die wir selten oder nie zur Kenntnis nehmen“. An die Ontologie angelagert fasst er den geheimnisvollen Faktor auch in relativ abstrakt gehaltenen anthropologischen Bestimmungen, die vor allem durch den Begriff des Bedürfnisses artikuliert werden. Am zahlreichsten sind die biologistischen Beschreibungsversuche für das Etwas. Das übergreifende Subjekt eines pan-biologischen Überlebensinstinkts ist einmal das „‚Leben an sich‘“, das „nichts anderes im Sinn hat als sich selbst“ zu erhalten, und dessen „Merkmal“ es sei, Ordnung entstehen zu lassen. Dann ist es wieder „die Natur“, die „sich selbst vor Auflösung und Chaos“ bewahre. Denn „das einzige Ziel“ der „unermesslichen Anstrengungen des Lebens liegt in der Entwicklung und dem Erhalt stabiler Systeme“. Den letzten Grund für den (Über-)Lebenstrieb legt er schließlich in die Gene.

Des Pres möchte das Material der Überlebenden-Zeugnisse nutzen, um seine Theorie des ‚Lebensinstinkts‘ zu belegen; auf ihn läuft sein Buch hinaus. Material und Theorie stehen bei ihm aber weitgehend bezuglos nebeneinander. Sie widersprechen sich sogar, wenn Des Pres meint, der Häftling habe es geschafft, seine Würde zu bewahren – und dies in Gegensatz steht zu seiner Beschreibung der Zerstörung der Form ‚Mensch‘, der Reduktion des Individuums auf die bloße kreatürliche Existenz. Gerade nach der Lektüre des Kapitels über den „excremental assault“ scheint fraglich, ob das traditionelle Konzept von Würde auf den Überlebenden noch anwendbar ist. Des Pres behauptet, dass ‚in‘ den Überlebenden etwas unverletzt geblieben sei – dass dem nicht so ist, das zeigte in der Folge Lawrence L. Langer in extenso. Man muss diese Unverändertheit aber annehmen, wenn man, wie Des Pres, ein bestimmtes Menschenbild bestätigt sehen möchte.

Aus Des Pres’ Postulaten ergeben sich zwei Konsequenzen. Zum einen müsste – in Widerspruch zu seinen eigenen Aussagen – die Niederlage der Opfer ihren persönlichen Mängeln geschuldet sein. Wer unterging, der muss demnach sein eigentlich unverlierbares Selbst geschwächt haben. Ein Zusammenhang von Ursache und Folge, von individuellem Handeln und individuellem Leiden und Tod ist dadurch wieder hergestellt. Dies mag für den Betrachter der Lagerwelt beruhigend sein, war dort aber suspendiert, wie Langer immer wieder am Material gezeigt hat. Zum anderen versucht Des Pres, eine allgemeine Theorie ‚des Überlebenden‘ zu entwerfen. Hierfür vermengt er umstandslos Erfahrungen von Gulag- mit Auschwitz-Überlebenden. Eine solche Übereinstimmung gibt es aber nicht, wie eine Auswertung einer größeren Menge von Überlebenden-Berichten zeigt. Nicht nur widerspricht ein Überlebenden-Bericht dem anderen, sie sind auch in sich widersprüchlich.

Gerade indem er die Akte des Terrors und die unausgesetzte Bedrohung zur Sprache kommen lässt, konnte – jenseits der Überlebenden-Literatur erstmalig – ein realistisches Bild vom Leben, Sterben und Überleben in den Lagern entstehen. Aber in manchen Aspekten verfährt Des Pres wie sein Gegner Bettelheim. Wie dieser setzte er ein bestimmtes Menschenbild voraus, nämlich ein Selbst, das extreme Situationen überschreiten kann. Daher rührt sein „Vokabular der Transzendenz“ (Langer). Auch hat Des Pres eine Vorliebe für das so genannte ‚Wesentliche‘. Der ab und an unübersehbare „Jargon der Eigentlichkeit“ (Theodor W. Adorno) passt zu seinen fundamentalontologischen Bestimmungen des (Über-)Lebenstriebs. Immer wieder suggeriert er, dass die Menschheit durch das Extrem der Lager, vermittelt über die Häftlinge, eine Erfahrung habe machen können, die ihr die Möglichkeit gebe, sich wieder auf das ‚Ursprüngliche‘ und ‚eigentlich Ausreichende‘ zu besinnen, das man in der modernen Zivilisation vergessen habe. Der Austausch beispielsweise, der im KZ „purer und ursprünglicher“ gewesen sei (was immer das heißen mag), ist Des Pres wegen seiner Reinheit automatisch auch ein irgendwie besserer. Der „in den Körperzellen verankerte Informationspool“, so weiß er, werde normalerweise „durch kulturelle Umformung unterdrückt“. In den Lagern hingegen sei „das menschliche Selbst in einer Weise zu sich selbst und seinen Ursprüngen gekommen, wie es das nie täte, solange es den Luxus der Selbsterweiterung genießt“. Was durch Kultur verdeckt würde, das sei nun – durch die Vernichtungslager der Deutschen – wieder freigelegt, und der Überlebende habe das Glück, „die ‚Zivilisationskrise‘ überstanden“ zu haben. Wer, wie die Überlebenden, mit dem Tode vertraut geworden sei, der habe diesen schließlich zu verachten gelernt. Aber wozu mag dies gut sein?

Des Pres warf Bettelheim zurecht vor, dass dessen Kritik an den Häftlingen „in der alten Heldenethik“ wurzele. Seine Alternative zum bloßen Überleben sei nur „ein todgeweihtes Heldentum“, der sich aus dem „alten Glauben der westlichen Kultur speist, dass die Knechtschaft des Menschen nur durch den Tod zu überwinden sei.“ Aber auch Des Pres sieht die Häftlinge im Lager eine „Erfahrung des Wachstums und der Klärung“ machen, einen „Prozess durchmachen, der sie in einer grundsätzlichen und verlässlichen Weise menschlich werden lässt.“ Wenn die Überlebenden erst menschlich werden mussten, dann waren sie es vorher offensichtlich noch nicht. Sein Ton wird dann ebenso weihevoll wie nichtssagend. „Auf dem schmalen Grad zwischen Sein und Nichtsein findet er [der Überlebende] zu seiner spezifischen Freiheit.“ Sein Schluss auf eine „besondere Gnade des Überlebenden: Er ist glücklich, am Leben zu sein“, wird absurd angesichts einer wenigstens annähernd quantitativen Auswertung von Überlebenden-Berichten. An die Stelle eines kantisch motivierten Heroismus tritt der Martin Heideggers, wo das Dasein, ins Nichts gehalten, von seiner Uneigentlichkeit gereinigt wird, indem er sich im Aushalten bewährt.

Titelbild

Terrence Des Pres: Der Überlebende. Anatomie der Todeslager.
Mit einem Nachwort von Arno Grün.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Monika Schiffer.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008.
248 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783608944204

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