Familienabgründe

Über Julia Leighs Roman „Unruhe“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oftmals haben es dünne Bücher schwerer als dicke Wälzer, weil man ihnen nicht viel Inhalt, Spannung und Dramatik zutraut. In den Buchhandlungen sind sie in den Regalen kaum zu sehen und hohe Stapel lassen sich mit ihnen auch nicht bauen. Trotzdem sollte man ihnen die gleiche Beachtung zuteil werden lassen, wie ihren voluminöseren Kollegen. „Unruhe“ von Julia Leigh ist ein solch schmales Buch, das ganz und gar kein „Büchlein“ ist, denn es hat so gar nichts nettes und niedliches an sich. Das lässt schon das Titelbild vermuten, das eine Art Schloss oder Trutzburg hinter üppiger Vegetation zeigt. Das Unheilvolle des Romans wird am ehesten durch den dramatisch grau-schwarzen Himmel angedeutet – ein wenig wie ein Elizabeth-George-Cover.

Eine junge Frau namens Olivia kehrt unerwartet und unangekündigt zu ihrer Mutter zurück. Fluchtartig hat sie ihren Mann, vor dem die Mutter sie einst gewarnt hat, verlassen, ihre beiden Kinder und das Notwendigste geschnappt und ist gegangen. Bereits der Anfang des Buches macht deutlich, dass sie vermutlich nicht willkommen ist: das große abweisende Tor des Landsitzes ist verschlossen, weswegen sie sich mit den Kindern durch eine Lücke im Zaun gewaltsam Zutritt zum Anwesen verschafft. Ein Bild, das ihre Zähigkeit, aber auch ihr demoliertes Selbstwertgefühl widerspiegelt. Das Wiedersehen fällt höflich, aber kühl aus. Dass sie sich mit ihrer Mutter nicht aussprechen wird, ihre prekäre Situation nicht beschreiben kann, liegt an einer weiteren familiären Katastrophe, die über dieses Haus hereinbricht: Olivias Bruder und seine Frau bekommen ein Kind, sie werden just in diesen Stunden mit dem Baby zurück erwartet. Doch alles kommt anders: das Neugeborene ist tot, die Eltern bringen das tote Kind mit und die traumatisierte junge Mutter hält es in ihren Armen. In dieser bizarren Ereignis- und Personenkonstellation befindet sich Olivia, die keine Perspektive hat und keine Ruhe findet, sich Gedanken um sich und ihre Kinder zu machen – und gerade diese Kinder sind das heimliche Zentrum des kleinen großen Romans von Julia Leigh. Die Autorin zeigt Andy und Lucy als Opfer einer brutalen Erwachsenenwelt, deren Zeichen – zum Beispiel die Hämatome am Körper ihrer Mutter – sie wohl sehen und vielleicht auch irgendwie einordnen können, deren Ursprung ihnen jedoch verschlossen bleibt. Sie sind beide in einer Angst gefangen, die sie individuell reagieren lässt. Lucy klammert sich an ihre Puppe und sucht Halt beim etwas älteren Bruder, dieser wiederum fühlt sich verantwortlich, schmiedet absurde Pläne und klaut dem Onkel sein Handy, das diesen mit seiner Geliebten verbindet.

Leigh schreibt beinahe nüchtern, springt immer wieder in der Benennung der Personen vom unpersönlichen „die Frau“, „der Junge“ et cetera zum Vornamen, hält somit eine gewisse Distanz und Indifferenz zu ihren Protagonisten, wechselt zwischen sachlicher und empathischer Annäherung an das Geschehen.

Titelbild

Julia Leigh: Unruhe. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Marica Bodrozic.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2009.
128 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783935890625

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