Text und Hypertext

Klaus Engels über Nina Hautzingers "Vom Buch zum Internet?"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das junge Genre der deutschen Netzliteratur tut sich schwer. Der ambitionierte Internet-Literatur-Wettbewerb der Wochenzeitung Die Zeit, der erstmals 1996 stattfand, wurde nach dreimaliger Veranstaltung eingestellt. Seine öffentliche Wirkung hatte er vor allem den Querelen um die Kompetenz der Jury zu verdanken. 1999 trat an seine Stelle im Rahmen der Baden-Württembergischen Literaturtage der Ettlinger Literaturwettbewerb, dem aber nur eine verhaltene Resonanz zuteil wurde. Zwar veranstaltete Anfang dieses Jahres das Museum für Literatur am Oberrhein in Karlsruhe ein beachtenswertes Internet-Projekt, aber die Ausschreibung eines Wettbewerbs sucht man vergeblich.

Nina Hautzinger hat mit ihrer Arbeit "Vom Buch zum Internet?" einen neuen Beitrag zur deutschen Netzliteratur vorgelegt. Ziel des Buches ist zu untersuchen, wie sich Text und Literatur durch den Einfluss von Internet und Hypertext verändern und wodurch sich die Netzliteratur von traditionellen Texten unterscheidet. Nicht nur die aktuelle Entwicklung scheint den provokanten Titel von Hautzingers Buch in Frage zu stellen, auch Hautzingers eigene Literaturauswahl zum Forschungsstand stärkt der deutschen Netzliteratur nicht gerade den Rücken: Nur eine der Angaben verweist auf einen deutschsprachigen Netzbeitrag, obwohl seit Jahren Beiträge eines hochkarätigen Diskurses zur Netzliteratur im Internet vorliegen.

Zum Einstieg in die Thematik holt die Autorin zu einem weiten Rückgriff aus: Ihren Überlegungen über die Auswirkungen der Digitalisierung stellt sie die Betrachtungen der Folgen des Buchdrucks voran. Wie dieser wird auch die Digitalisierung enorme soziale und gesellschaftliche Veränderungen zur Folge haben. So scheint die gehäufte Verwendung von Symbolen in der digitalen Kommunikation auf das Aufleben eines ikonographischen Systems hinzudeuten, durch das sich die Literatur vor der Erfindung des Buchdrucks ausgezeichnet hat. Schließlich wird die Frage aufgeworfen, ob diese Hinwendung zum Visuellen zu einer Schwächung des abstrakten Denkvermögens führen könne und ob das Beherrschen der Schrift wieder zum Vorrecht einer Bildungselite werde.

Anschließend wird versucht, die Texttheorie von Roland Barthes auf das Konzept des Hypertextes zu übertragen. Barthes hatte bereits vor dreißig Jahren die dominierende Instanz des Autors und die lineare Struktur von Texten kritisiert. Er forderte die Aufgliederung von Texten in einzelne Segmente, sogenannte "lexias", die erst durch den individuellen Auswahlprozess des Lesers zum fertigen Text führen. Hautzinger erkennt in Barthes' Ansatz erstaunliche Parallelen zum Hypertext, der ebenfalls aus einzelnen Textsegmenten besteht, zwischen denen der Leser mittels der Links navigieren kann.

Nach einer kurzen Geschichte des Internet mit seiner ursprünglich militärischen Funktion und den frühen Konzepten Memex und Xanadu, erläutert Hautzinger die verschiedenen Kommunikationsformen im Netz. Vorgestellt werden E-Mail, Diskussionsforen, Internet Relay Chats und Multiple User Dungeons. Bei der Diskussion der Auswirkungen der neuen Kommunikationsformen stellt Hautzinger fest, dass die Netzlitertaur ihre Leser gerade aus solchen Kreisen zu erwarten hat, die mit den Kommunikationstechniken bereits vertraut sind. Darüber hinaus würden diese Leser aufgrund der Vertrautheit mit der netzspezifischen Symbolik höhere Ansprüche an die Visualität und das Design der Netzliteratur stellen.

Den Hauptteil des Buches macht die Darstellung der Charakteristika von Hypertext aus. Hervorgehoben wird die Loslösung vom linearen Verlauf der Texte, die Intergration multimedialer Elemente sowie die Problematik des fehlenden Endes im Hypertext. Großer Raum wird der Funktion der Links eingeräumt. Ihnen stellt Hautzinger die Fußnotensysteme konventioneller Texte gegenüber und fragt, ob die Links tatsächlich der freien Assoziation beim Lesen förderlich sind oder sie eher behindern. Auch die neuen Rollen von Autor und Leser, die Hypertext bedingt, werden untersucht.

Das Buch endet mit der Vorstellung von drei Beispielen konkreter Netzliteratur. Hautzinger hat Beiträge ausgewählt, die aus den Internet-Literatur-Wettbewerben der Zeit von 1996 und 1997 als Sieger hervorgegangen sind: Martina Kieningers "Der Schrank. Die Schranke. 1 Stück Theater für Denker im Denktank", Peter Berlichs "Core" und Susanne Berkenhegers "Zeit für die Bombe". Hautzinger kommt allerdings zu dem Fazit, dass sich die Autoren noch stark am linearen Text orientieren und dass die multimedialen Möglichkeiten von Hypertext noch kaum zum Einsatz kommen. So muss sie am Ende feststellen, dass "narrative Formen zunächst wohl eher noch auf das Buch konzentriert bleiben werden", und dass "Hypertext vor allem in Hinsicht auf Sachliteratur und wissenschaftliche Forschung völlig neue Möglichkeiten" eröffnet.

Dem Leser, der bisher noch keinen Zugang zu dem Themenfeld hatte, bietet das Buch einen guten Überblick über das Internet und die Möglichkeiten und Probleme, die mit Hypertext verbunden sind. Die Arbeit ist leicht verständlich geschrieben und Nina Hautzinger schreckt nicht davor zurück, auch vermeintlich Selbstverständliches, wie etwa die Funktion des Mauszeigers, zu erklären. Wer sich in der Materie auskennt, wird hier allerdings kaum Neues erfahren. Die Stärke des Buches liegt vor allem in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Rekursen. Die Rückgriffe auf das Mittelalter und ältere Texttheorien wirken keinesfalls wie Anachronismen, sondern bewahren vor der verbreiteten Euphorie, in der alles, was mit dem Internet zu tun hat, zum Novum erklärt wird.

Titelbild

Nina Hautzinger: Vom Buch zum Internet? Eine Analyse der Auswirkungen hypertextueller Strukturen auf Text und Literatur.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1999.
131 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3861101963

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