Wie man sein literarisches Verstummen ins Werk setzt

Ulrich Horstmann über die Aufgabe der Literatur

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ulrich Horstmann ist für die Waghalsigkeit bekannt, mit der er bislang in zahlreichen Genres reüssierte, und hat sich nun an den Versuch der Beantwortung einer Frage gewagt, über die bislang noch niemand aus eigener Erfahrung schreiben konnte: Wie SchriftstellerInnen lernen, das Verstummen zu überleben. Nun muss allerdings gleich eingeräumt werden, dass dies etwas gemogelt ist. Nicht vom Autor, sondern vom Rezensenten, der zwar den Untertitel des vorliegenden Buches paraphrasiert hat, dabei aber nicht nur aus dessen Vergangenheitsform „lernte“ einen Präsens machte, sondern zudem das Versprechen des Autors, darüber Auskunft zu erteilen, „[w]ie Schriftsteller lernten, das Verstummen zu überleben“, in eine Frage verwandelte.

Horstmanns jüngstes Buch handelt also von einer Reihe AutorInnen (es handelt sich fast ausschließlich um solche männlichen Geschlechts), die das Schreiben aus freien Stücken aufgaben. Unter ihnen sind so illustre Namen wie Friedrich Hölderlin, Arthur Rimbaud, Samuel Beckett und Arno Schmidt, aber auch weit unbekanntere wie Walter M. Miller, der allenfalls als „hochkarätige[r] Science-fiction-Autor“ und Verfasser nur eines einzigen lesbaren Werkes mit dem Titel „Canticle for Leibowitz“ einige Berühmtheit erlangte, oder wie Laura Riding Jackson, eine, wie Horstmann meint, „Hexenjägerin ihrer selbst“, deren „Selbstmordversuch“ zwar „einen Skandal aus[ge]löst, aber sein Ziel nicht verfehlt“ habe. Nun versteht es Horstmann zwar öfter, mit seinen Formulierungen den Lesenden Stolpersteine in den Weg zu legen. Hier aber führt das stolpernde, sich mühsam wieder fangende und aufrichtende Denken nur zu dem Schluss, dass sich das „nicht“ hinter dem Rücken des Autors eingeschlichen haben muss. Denn wenn es zutrifft, dass Riding Jackson einen Selbstmordversuch beging, beinhaltet die Bezeichnung ihrer Handlung das Verfehlen des ihr implizit unterstellten Ziels, sich zu töten. Prinzipiell denkbar wäre allerdings auch, dass Riding Jackson den Selbstmordversuch nur vorgetäuscht hat. Dann wäre es jedoch der Versuch der Vortäuschung eines Selbstmordversuchs gewesen, der sein Ziel nicht verfehlt hat, indem sie überlebte und (vermutlich) alle Welt glauben machte, sie habe sich töten wollen.

Ausgewiesene KennerInnen der Literaturgeschichte werden bemerken, dass die genannten AutorInnen alle im 19. und 20. Jahrhundert schrieben und verstummten. Horstmanns Untersuchungszeitraum erstreckt sich somit über etwa zwei Jahrhunderte und umfasst die „romantische, moderne und postmoderne Avantgarden“ der Literatur, die sich dem Autor zufolge einem „ständig wachsenden Innovationsdruck“ ausgesetzt sahen, der ihnen einen „Lernprozeß von nie dagewesener Rigorosität und Schmerzhaftigkeit“ zugemutet habe, da er die „Aufgabe der Literatur um die Aufgabe der Literatur erweitert[e]“. In den „sechs oder sieben Generationen“ dieser Zeit sei nun „etwas bemerkenswertes“ geschehen. Denn die AutorInnen lernten im Laufe der Generationen mit dem Verstummen umzugehen, das über diejenigen, die zu Beginn des Untersuchungszeitraums schrieben, noch „mit vernichtender Gewalt“ hereingebrochen war.

Diesem Erfolgsweg folgt der Autor zwar im Wesentlichen, aber doch nicht völlig chronologisch. Denn er beginnt seine Untersuchung mit einem „Triumvirat der Entmündigten“, in das er Hölderlin, John Clare, und Robert Walser einsetzt. Nicht der „Verlust“ von „Susette-‚Diotima‘“, also der geliebten, aber verheirateten Frau, habe ersteren „mundtot“ gemacht, sondern die Abkehr seiner „Muse“. Die Annahme, Hölderlin und Clare hätten nicht mehr dichten können, weil sie wahnsinnig geworden waren, sei allerdings ein Irrtum. Bei letzterem habe es sich sogar gerade umgekehrt verhalten. Denn er sei vielmehr „unzurechnungsfähig geworden, um literarisch weiterarbeiten zu können“. Ähnlich wie seine beiden Mittriumviraten müsse man auch Walser in seiner „lichten Umnachtung als unglückselig denken“.

Rimbauds „poetische Geschäftsaufgabe“ weist Horstmann zufolge ebenfalls „eine ganze Reihe von Parallelen mit Hölderlins Zusammenbruch“ auf, doch sei er bei dem Franzosen „psychisch unspektakulärer“ verlaufen. Bevor sich der Autor jedoch dem französischen Dichter zuwendet, lässt er dem Triumvirat zunächst einen Briten folgen: Algernon Swinburne. Das dem präraffaelitisch inspirierten Dichter gewidmete Kapitel wächst sich zu einer ebenso empörten wie berechtigten Anklage gegen Theodore Watts-Dunton aus, den ‚Lebensretter‘ und -erhalter des Dichters, der „um ‚gute‘ humanistische Gründe nie verlegen war, aber das Selbstbestimmungsrecht des lebensmüden Swinburne ebendeshalb besten Gewissens mit Füßen getreten hat“, und dessen „Intervention“ aus dem Genie von ehedem einen schreibenden „doppelgängerische[n] Zombie“ machte, einen „Homunkulus“, der „bis hin in die Fingerspitzen hinein der Außensteuerung seines ‚Wohltäters‘ gehorchte.“ Watts-Dunton, so erbost sich Horstmann in gerechtem Zorn, habe den „um seinen Abgang betrogenen, verharmlosten Dichter“ gezwungen, „sich zu überleben“.

Zu den LiteratInnen, denen Horstmann sich im Weiteren zuwendet, zählen Jerome David Salinger und Samuel Beckett, der „eine Nichtigkeitserklärung an die andere“ reiht, was Horstmann zu der verwunderten Frage veranlasst, wieso das gut geht. Derlei hochachtungsvolle Fragen stellen sich dem Autor bei dem von ihm offenbar wenig geschätzten J. D. Salinger und dessen nach dem Erfolgsroman „The Catcher in the Rye“ „zunehmend lieblos [z]usammengeschusterte[m] literarischen Pfusch“ nicht. Auf seiner „Metamorphose vom Schriftsteller zum Guru“ sei Salinger kläglich „steckengeblieben“ und so nicht mehr als ein „komischer Heiliger“ geworden. Erfolgreicher habe da schon Laura Riding Jackson ihre Verwandlung in Szene gesetzt, indem sie den Verlust ihres „literarischen Selbstwertgefühls“ mithilfe eines „wissenschaftlichen ‚Heiligenschein[s]‘, dem sie nach 1938 mehr und mehr Strahlkraft verleiht“, „überkompensiert“ habe.

Wie stets weiß Horstmann auch diesmal unterhaltsam zu formulieren, und dann und wann auch einmal zu fabulieren. Vor allem aber eröffnet er manch neue Perspektive auf das Schreiben der behandelten AutorInnen und deren Verstummen. Und wenn Horstmann seine Arbeit mit den Worten ausklingen lässt „Humpelnd trete ich zurück, trete ich weg in die lückenhafte, in die nicht mehr auf Vordermann zu bringende Reihe derer, die gelernt haben, sich abzuschreiben“, so legen nicht nur diese letzten Zeilen den Schluss nahe, dass er mit dem vorliegenden Buch über das literarische Verstummen seiner KollegInnen beginnt, das literarische Verstummen seiner selbst ins Werk zu setzen.

Titelbild

Ulrich Horstmann: Die Aufgabe der Literatur. Wie Schriftsteller lernten, das Verstummen zu überleben.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
271 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783596183616

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