Die Welt „am Schattenberg“
Otto Zumoberhaus‘ Walliser Familiensaga
Von Jolanda Heller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuf 400 Seiten führt uns Otto Zumoberhaus mit seinem Erstlingsroman vom Oberwallis des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Wir begleiten fünf Generationen der Familie Zenthelen, deren Mitglieder sich im Bergdorf Lärchen durchs Leben schlagen, Fluchtwünsche hegen, sie zum Teil ausführen, aber immer wieder zurückkehren. Der 80-jährige Autor hat aus seinem langen, erlebnisreichen Leben viel zu erzählen und lässt einiges an selbst Erlebtem und Gehörtem in seine Schilderungen einfliessen. Otto Zumoberhaus selbst stammt aus dem Kanton Wallis, aus Raron, einem Dorf an mit Weintrauben bewachsenen Hängen, das durch seine Bewohner Rainer Maria Rilke und Peter von Roten Berühmtheit erlangt hat. Alle bisherigen Veröffentlichungen des Autors haben es mit dem Wallis zu tun. „Herrgott, Tod und Tyfil“ beispielsweise handelt von der Theaterleidenschaft des Vaters und ist zugleich Theatergeschichte von Raron. Eine Totentanz-Geschichte für ein lokales Blatt befasst sich ein weiteres Mal mit dem Vater. Über dessen Auferstehung erschrocken, flieht der mit dem Autor anscheinend identische Erzähler nach Basel, wo Zumoberhaus auch in der realen Welt lebt.
Wenn in dem Roman vom Gehörten die Rede ist, dann sind wir schon mitten drin im Dorfleben, an dem auch die Familie Zenthelen teil hat. Erstaunlich, was die Bewohner des Dorfes zu hören meinen, von sich hören lassen und am Ende ganz sicher glauben, gewusst zu haben. Eine gut ausgestattete Gerüchteküche, gepaart mit Aberglauben, prägt das Leben in Lärchen, wo neben der Arbeit der Nachbar ein beliebtes Beschäftigungsobjekt ist. Die Familie Zenthelen verfolgen die Gerüchte zeitlebens und der lichtscheue Name ihres Hauses „am Schattenberg“ trägt dazu bei.
Der Roman beginnt mit einer Sterbeszene, die wie ein Motto dem ersten von insgesamt drei Büchern und einem Epilog vorangeht. Es wird viel gestorben in diesem Buch. Jeder Tod wird durch irgendwelche Vorahnungen angekündigt, jedes Glück wird von einem dunklen Wissen überschattet, dass wieder etwas Schreckliches geschehen wird. Die Ankündigungen eines jeden Unglücks vom allwissenden Erzähler auf die Nase gebunden zu kriegen, ist mit der Zeit dann doch enervierend.
In der erste Romanszene stirbt der Sohn von Christian (der Hauptfigur) und seiner ersten Frau Luwisa an Tuberkulose. Schon ein Jahr zuvor starben zwei Töchter an derselben Krankheit, was die Eheleute als „Strafe Gottes“ hinnahmen. Weiteres Unheil lässt nicht lange auf sich warten. Christians Frau stürzt in einen Abgrund, nachdem sie ihm gestanden hat, dass der eigene Vater sie vergewaltigt hat. Die bösen Vorahnungen sind damit bestätigt. Fragwürdiger allerdings als die Anhäufung von so vielen Übeln ist in diesem Zusammenhang die Perspektive des Erzählers. In ihr wird das Opfer der Vergewaltigung zur Täterin: „Nun aber kam er eines Nachts und legte sich zu ihr ins Bett. Alles Bitten und Sträuben fruchtete nichts, ihr Schreien wurde nicht gehört. […] Aber die Jahre vergingen, aus der Jungfrau wurde eine junge Frau, und die begann nach einiger Zeit, selbst die Lust zu entdecken und das verbotene Spiel mit ihrem Vater zu geniessen.“
Als ob die Vergewaltigungen dadurch an Schrecklichkeit verlören, erfährt Christian „zufälligerweise“, dass Luwisa keine leibliche Tochter ihres Vaters war. Damit ist für ihn klar: Er kann weder das Geschlecht der Zenthelen aussterben lassen noch das Heimatdorf verlassen. Das zweite Buch handelt von der erneuten Heirat und der Neugründung einer Familie mit sechs Kindern. Die Ängste, das Geschlecht könnte einmal nicht mehr sein, scheinen ebenso gebannt wie auch die Unglücksfälle im Haus an der sonnenabgewandten Seite des Berges. Die Familie erreicht einen gewissen Wohlstand – aber die Schicksalsschläge treffen sie weiter.
Im dritten Buch erreichen das Wallis mit dem 20. Jahrhundert die Errungenschaften der Moderne. Elektrizität, Fabriken und der Eisenbahntunnel durch den Simplon sind Zeichen des Aufbruchs für die armen Walliser Berggemeinden. Auch die Zenthelen halten Schritt. Der älteste Sohn Christians war drauf und dran, in der Luxushotellerie bei César Ritz Karriere zu machen, stirbt aber an der Spanischen Grippe. Ein weiterer Sohn tritt nach dem Zweiten Weltkrieg bei seinem Oberst in Basel in den Dienst, mit dem er eine Beziehung führt. Dass er schwul ist, hat man geahnt, doch der Erzähler bindet uns auch dies unmissverständlich auf die Nase: „Hast auch schon davon gehört, dass es Männer gibt, die nicht unbedingt eine Frau brauchen?“
Im Epilog schliesslich sind wir mit dem Urenkel Christians ins Wallis zurückgekehrt. Er nennt sich anstatt Hansjoggi nun Joe, denn er ist in Amerika reich geworden, geschieden von seiner jüdischen Frau, da die Karriere wichtiger war. Als Achtzigjähriger kennt er niemanden mehr in Lärchen, eine entfernte Verwandte macht ihm den Haushalt und hört den Geschichten des letzten Zenthelen zu, die eine Tochter in Amerika einmal aufschreiben soll.
Wir erfahren in diesem Buch viel über das weinbergbäuerliche Leben aus dem Oberwallis von vor 130 Jahren bis ins Jahr 2008 und ein Glossar am Ende des Buches erklärt den Unkundigen Begriffe aus dem Walliser Dialekt. Kirchliche Bräuche werden vorgestellt und historische Eckdaten dienen der zeitlichen Orientierung, so etwa der Deutsch-Französische Krieg von 1871 und die beiden Weltkriege. Wichtiger ist den Dorfbewohnern allerdings das eigene Überleben und die eigene kleine Welt. Der Versuch des Autors, die Welt-, Dorf- und Familiengeschichte in ein rundes Ganzes zu fügen, bleibt insgesamt etwas holprig und schulmeisterlich. Als anschauliches Zeitdokument aus dem Oberwallis hat der Roman jedoch seine Qualitäten.
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