Dichter des Scheiterns

Mit „Die Geschwister Tanner“ liegen nun die ersten beiden Bände der kritischen Robert-Walser-Ausgabe vor

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In (etwas gewöhnungsbedüftigem) Tiffany-Türkis kommen sie daher: Die beiden unlängst bei Stroemfeld und Schwabe erschienenen Bände „Die Geschwister Tanner“, von denen der großformatige erste Walsers Manuskript sowohl als Faksimile als auch in transkribierter Form präsentiert, wohingegen der zweite den 1907 bei Paul Cassirer veröffentlichten Erstdruck nebst Varianten, sowie (leider arg summarisch-verstümmelte) Rezeptionszeugnisse enthält.

Christian Morgenstern, seinerzeit Lektor bei Cassirer, pries – zumindest seinem Chef gegenüber – Walsers Debütroman in den höchsten Tönen: Selten habe er „etwas in seiner Art so Schönes“ gelesen, und auch heute noch vermögen Walsers „singende Prosa“ (Kurt Tucholsky) und die merkwürdig-märchenhaft anmutende Welt des Protagonisten Simon Tanner, einiger erzählerischer Längen zum Trotz, Leser in ihren Bann zu ziehen: „Die Geschwister Tanner“ ist eigentlich ein literarisches Paradoxon – ein Entwicklungsroman ohne jegliche Entwicklung; getrieben von einer tiefen „Sehnsucht“ begibt sich der 20jährige Simon auf die Suche nach sich selbst und nach einem Platz im Leben. Dieses Unterfangen wird jedoch durch seine Ungeduld und seine Unangepasstheit unmöglich gemacht: „Ich bin noch überall, wo ich gewesen bin […] bald wieder fortgegangen, weil es mir nicht behagt hat, meine jungen Kräfte versauern zu lassen in der Enge und Dumpfheit von Schreibstuben […].“ Der Ermahnung eines seiner Vorgesetzten, er solle an seine Zukunft denken, entgegnet Simon trotzig: „Ich will keine Zukunft, ich will eine Gegenwart haben. Das erscheint mir wertvoller. So zieht er in der Folge ziellos, als moderne Postfiguration des Eichendorff’schen „Taugenichts“, von Stellung zu Stellung und von Wohnort zu Wohnort, wobei sein Weg immer wieder von dem seiner drei Brüder und seiner Schwester gekreuzt wird – Figuren, in denen schon Zeitgenossen Walsers dessen eigene Geschwister erkannten.

Dabei bilden „Die Geschwister Tanner“ nur den Auftakt der neuen kritischen Robert Walser Ausgabe, deren acht Abteilungen beim Abschluss dieses editorischen Großunterfangens insgesamt rund 38 Bände umfassen sollen, zu denen neben den drei Walser’schen Romanen, seiner Kurzprosa, seinen Gedichten und den sogenannten ,Mikrogrammen‘ auch seine Briefe und ein Band mit (dann wohl vollständig abgedruckten) Rezeptionszeugnissen gehören wird. Geschätzte 15 Jahre soll es dauern, bis die Ausgabe fertig gestellt sein wird, rund sechs Millionen Franken soll dies die Schweizer Steuerzahler dann gekostet haben, die gleiche Summe soll durch Drittmittel aufgebracht worden sein.

Doch wozu, so mag man sich fragen, bedarf es einer neuen Walser-Ausgabe – noch dazu einer solchen Umfangs? Liegen doch Walsers Werke schon seit Mitte der 1970er-Jahre in Jochen Greves 20bändiger Ausgabe vor.

Dafür scheint es eine ganze Reihe guter Gründe zu geben, von denen die herausgebenden Verlage Stroemfeld und Schwabe die wichtigsten in einem Editionsprospekt zusammengefasst haben. Insbesondere die neuartigen editorischen Prinzipien der beiden Hauptherausgeber Wolfram Groddeck und Barbara von Reibnitz werden demnach nicht nur dazu führen, dass man sich schließlich deutlich von der der bislang gängigen Suhrkamp-Ausgabe unterscheide, sondern machen eine Werk-Neuausgabe gemäß dieser Prinzipien auch geradezu zu einem dringenden Desiderat: Vorrangig gehe es bei dieser Ausgabe darum, den Rezipienten nicht mehr nur Walsers Werke, sondern vielmehr Walsers Werk zugänglich zu machen. Dieses aber, so wird in besagtem Prospekt eloquent dargelegt, bestehe aus mehr als lediglich der Summe seiner literarischen Teile; so sei etwa gerade die in diversen Zeitschriften erschienene Walser’sche Kurzprosa kaum kultur- und literaturgeschichtlich hinreichend zu würdigen, solange der entsprechende publizistische Kontext unbekannt sei. Zum Beweis des rezeptiven Mehrwerts der angestrebten „editorische[n] Rekontextualiserung“ enthält der Prospekt eine faksimilierte Seite aus der Zeitschrift „Sport im Bild“, in der 1928 Walsers „Weltstadt“ erstmals erschien. Und tatsächlich: Von der eleganten Typografie über die floralen Ornamente bis hin zu den Illustrationen mondäner Art-Deco-Damen, die den Text flankieren, wird deutlich, in welchem Maße gerade bei Zeitungs- und Zeitschriftenpublikationen das Medium, wenngleich auch nicht die einzige ,Botschaft‘, so doch ein zentraler Bestandteil der ursprünglichen Textrezeption ist. Folglich sollen Walsers entsprechende Veröffentlichungen im Rahmen dieser Ausgabe nach ihren Druckorten sortiert erscheinen, von denen die Drucke in Zeitschriften sechs, die in Zeitungen fünf Bände einnehmen werden. Hierbei zeigt sich allerdings auch noch ein anderes, vielleicht eher ungewöhnliches editorisches Prinzip – das Prinzip Hoffnung: „Immer wieder finden sich unbekannte Abdrucke, auch in Zeitungen, in denen bislang keine Veröffentlichungen Walsers vermutet wurden. Der letzte Band der dritten Abteilung wird daher erst gegen Ende der Edition erscheinen.“ Sicherlich: Noch 2003 veröffentlichte Bernhard Echte einen Supplementband zur Suhrkamp Ausgabe, der rund drei Dutzend bis dato unbekannter Walser-Texte enthält; dass man wohl im Laufe der Zeit noch mehr bislang unbekannte Texte Walsers finden wird, ist in der Walser-Forschung communis opinio; darauf zu setzen, dass einem der Zufall in die Herausgeberhände spielen wird, ist jedoch zumindest gewagt. Dies umso mehr, als das gleiche Prinzip auch die Grundlage für den Band mit Rezeptionszeugnissen bildet.

Als editorisch großer Wurf sind dann die zwölf den Mikrogrammen gewidmeten Bände geplant, in denen dann auch der sicherlich größte Vorteil der aktuellen Neuausgabe zum Tragen kommen soll: das konsequente Faksimilieren der Walser’schen Manuskripte. Obschon die mit bloßem Augen kaum lesbaren Texte der insgesamt 526 Mikrogrammblätter teilweise bereits von Jochen Greve und ergänzend dann von Werner Morlang und Bernhard Echte zugänglich gemacht wurden, sollen diese nun erstmals in ihrer ursprünglichen Textgestalt und ihrem –zusammenhang reproduziert werden. Dabei kommt dann mit der elektronischen Darbietung aller Texte auf einer beiliegenden CD-ROM auch eine zweite editorische Besonderheit zum Tragen; erst durch die entsprechende Zoom-Funktion wird es möglich, die einzelnen, in Originalgröße faksimilierten Texte auch tatsächlich lesen zu können. Dass dadurch tatsächlich ein neuer Blick auf die einzelnen Texte möglich wird, führt Wolfram Groddeck in seinem dem Prospekt beigegebenen Aufsatz „Jenseits des Buchs. Zur Dynamik des Werkbegriffs bei Robert Walser“ eindrücklich vor Augen: Konstatiert etwa Diana Schilling in ihrer Biografie des Dichters noch, dass die Mikrogrammtexte in ihrem „Hingeworfensein“ noch maximal einen thematisch-motivischen Zusammenhalt aufweisen, so zeigt Goddeck anhand eines Beispiels, wie sehr die viel ursprünglichere Form des materialen Zusammenhalts gegenseitige Parallelen und Wechselverhältnisse zwischen den Texten bedingten und wie Wörter der teilweise bereits beschrifteten Blätter als „Kristallisationspunkte“ der Walser’schen Prosa fungierten.

Ob mit dieser aufwändigen Neuausgabe freilich noch der „gewöhnliche Leser“, wie Virginia Woolf den durchschnittlichen Rezipienten – ohne derogativen Beigeschmack – nannte, angesprochen und vor allem zum Kauf der nicht gerade preiswerten Bände animiert werden kann, scheint zumindest fraglich; umso mehr, als besagte Suhrkamp-Ausgabe ab dem kommenden Jahr überarbeitet und ergänzt werden soll und dann für ein breites Lesepublikum, das sich primär für Walsers Werke und nicht so sehr für philologisch-editorische Finessen interessiert, unter Umständen weitaus attraktiver sein könnte.

Titelbild

Robert Walser: Geschwister Tanner, Band IV. Robert Walser Kritische Ausgabe, sämtliche Drucke und Manuskripte.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
450 Seiten, 86,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000223

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