Auf den Fundamenten der Literatur

Zu Walter Muschgs Essaysammlung „Die Zerstörung der deutschen Literatur“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Literaturhistoriker und Germanist Walter Muschg (1898-1965) hatte 1948 als einer der ersten Literaturwissenschaftler nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner „Tragischen Literaturgeschichte“ ein literaturhistorisches Modell vorgelegt, das die moderne deutschsprachige Literatur der 1920er- und 1930er-Jahre aus dem Bannstrahl des Nationalsozialismus befreite. Was sich in seiner Dissertation über Heinrich von Kleist (1923) andeutet, nämlich die Analyse der Literatur unter Zuhilfenahme moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse aus den Bereichen der Psychologie und der Psychoanalyse, wurde nach dem zweiten Weltkrieg systematisch weiterentwickelt. Schon in der „Tragischen Literaturgeschichte“ wird der Dichter als „tragische Gestalt“ entworfen, wobei bei Muschg der Tragische auch immer als das Menschliche gedacht wird. Der Blick auf die verborgenen Inhalte und Interpretationsmuster der Literatur von modernen Autoren wie Oskar Loerke, Karl Kraus, Ernst Barlach, Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn und Franz Kafka ist ihm als bleibender Verdienst anzurechnen.

In seiner Essay-Sammlung „Die Zerstörung der deutschen Literatur“, die erstmals 1956 erschien, hatte Muschg einen Querschnitt seiner Aufsätze zu „seinen“ Autoren versammelt: Bertolt Brecht, Johann Wolfgang Goethe, Ernst Barlach, um nur einige zu nennen. Bei der vorliegenden Edition haben sich die Herausgeber nicht an der Erstausgabe orientiert, sondern versucht, Muschgs Idee einer Essaysammlung des Jahres 1956 auf die Gegenwart des 21. Jahrhunderts zu projizieren. Somit besteht die Edition aus zwei Teilen, wobei der erste Teil die Essays der Sammlung „Die Zerstörung der deutschen Literatur“ enthält und in einem zweiten Abschnitt ausgewählte Essays wiedergegeben werden. Dass hiermit ein repräsentativer Querschnitt entstanden ist, kann nicht bestritten werden. Zusammen mit der „Tragischen Literaturgeschichte“ hält der Leser so die Essenz von Muschgs Werk in Händen.

Dass eine solche Auswahl wichtig und eigentlich unverzichtbar ist, muss allerdings auch heute noch vermittelt werden. Muschgs Werk hatte nach seinem Tod Mitte der 1960er-Jahre nahezu keine Wirkung hinterlassen. Seine Position im Kulturbetrieb war zu heterogen, er war seiner Zeit eigentlich weit mehr als zwanzig Jahre voraus. Dass er kaum rezipiert wurde, mag nicht zuletzt an seiner Kritik an der schweizer und der bundesrepublikanischen Wirklichkeit gelegen haben. Im Nachwort beschreibt Julian Schütt dezidiert das Dilemma und Problem. Nicht einmal die 1968er-Generation kam mit seiner kritischen Art zurecht: „Trotzdem hätte er sich auch 1968 isoliert mit seinem autoritären Habitus, dem Haß gegen jedes Kollektivdenken, seiner Überzeugung, daß ‚die Rücksicht auf die Masse das sichere Kennzeichen des Schlechten’ sei.“ Selbst in seinem Wirken als Literaturwissenschaftler blieb er teilweise erfolglos, waren seine Zeitgenossen doch mit seiner moralisch orientierten Kritik überfordert. Schütt schreibt dazu im Nachwort, Jeremias Gotthelf zitierend, dem Muschg gerne eine Stimme verlieh: „In den eskapistischen Nachkriegsjahren blieb Walter Muschg eine Ausnahmeerscheinung, ein Findling jenseits von Schön- und Schongeistigem, ein Einzelkämpfer oft auf verlorenem Posten. Wie hatte er über sein Vorbild Gotthelf geschrieben: ‚Es ahnte, daß sein Rufen und Tun vergeblich war, und stand dennoch nicht davon ab. Was er für falsch und schlecht hielt, das trug den Sieg davon. Und doch hilft ein Dichter wie er vielleicht ein Volk vor dem Untergang bewahren.‘“

Muschg überforderte zwar seine Zeitgenossen, aber er überzeugt fast fünfzig Jahre nach seinem Tod mit einer frischen und streitbaren Sammlung von literarischen Essays, die manchmal mit etwas verschrobenen Interpretationen daherkommen, aber immer zur Diskussion anregen. Sie vermitteln vor allem etwas, was heutzutage im Literaturbetrieb nicht mehr selbstverständlich zu sein scheint: Interesse am Gegenstand und vor allem an den „menschlichen“ Aspekten von Literatur und Literaturrezeption. Persönlichkeiten wie Muschg sind selten im Gebiet der Kritik und der Literaturwissenschaft anzutreffen, vor allem, wenn es darum geht, die Begeisterung für den Untersuchungsgegenstand, die Literatur, zu vermitteln. Mit der vorliegenden Edition, die neben dem kompetenten Nachwort von Schütte auch noch ein nutzbringendes Namensregister enthält, sei Muschg eine Wirkung gewünscht, wie sie der hohen Qualität seiner Essays angemessen wäre. Selten ist Literaturwissenschaft so unterhaltsam.

Titelbild

Walter Muschg: Die Zerstörung der deutschen Literatur - und andere Essays.
Diogenes Verlag, Zürich 2008.
352 Seiten, 32,90 EUR.
ISBN-13: 9783257066456

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