Emotionaler Super-GAU

„Gemeinsam einsam“ – das ist eine gelebte Normalität in Mark Haddons tragikomischen Familiendrama

Von Chrisula DingiludiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Chrisula Dingiludi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

George Hall ist das Familienoberhaupt einer durchschnittlichen englischen Vorstadtfamilie. Seine Ehefrau geht fremd, die Tochter heiratet zum zweiten Mal und der schwule Sohn vereinsamt, weil er sich durch seine Beziehungsangst immer weiter isoliert. Der Vater selbst ist fest davon überzeugt Krebs zu haben, nachdem er in der Umkleidekabine eines Herrenausstatters ein Wundmal an seiner Hüfte entdeckt hat.

Auch wenn diese Familie auf den ersten Blick eher wie das Abbild eines gescheiterten Familienideals wirkt, skizziert Mark Haddon in seinem Roman die Zwei-Kinder-Standardfamilie mit Haus und Garten eher als eine Art Illusion. Sie ist keine gelebte Realität. Bei den Halls spricht niemand seine Probleme offen an. Stattdessen bildet sich über die Jahre eine lähmende Sprachlosigkeit, die bruchfest zu sein scheint. Doch dann nehmen Georges’ hypochondrische Gedanken wahnhafte Züge an und er träumt tagsüber wie unter Drogen vor sich hin, damit seine Todesängste erträglicher werden. Sein Verhalten steigert sich in einen geplanten Selbstmord, der gerade noch rechtzeitig – jedoch eher zufällig – verhindert wird. Es herrscht eine stille Übereinkunft darüber, sich gegenseitig zu ignorieren. Aber das scheint ab diesem Moment für alle in der Familie nicht mehr haltbar zu sein, und der emotionale Super-GAU wird ausgelöst.

Unterhaltsam und mit absurder Komik schildert Mark Haddon diese Kleinstadtfamilie. Eine Familienkrise ist als Thema nichts Umwälzendes, aber durch Haddons präzisen Blick auf die selbstzerstörerischen Seiten der menschlichen Psyche, gewinnt das Drama einen besonders abgründigen Charakter. Die vier Hauptfiguren formen die wechselnde Perspektive, aus der erzählt wird und der Wortlaut verändert sich mit den Personen. Georges krankhafte Angst wird meist mit höhnischem Unterton beschrieben, während der Sohn durch seine Vereinsamung wortkarg bleibt. Dialoge und innere Monologe bilden dabei meistens eine harmonische Verbindung.

„Der wunde Punkt“ ist Mark Haddons zweiter Roman. Neben seinen Kinderbüchern schreibt er auch Lyrik und Drehbücher für das Kinderprogramm der BBC. Sein internationaler Bestseller „Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“ ist in England 2003 mit dem Whitbread-Award ausgezeichnet worden.

Titelbild

Mark Haddon: Der wunde Punkt. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Anke Caroline Burger.
Blessing Verlag, München 2007.
450 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783896672926

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