Der Gefangene
Zu Chantal Akermans Film „Die Gefangene“ nach Motiven von Marcel Proust
Von Behrang Samsami
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass es jede von ihnen hätte sein können, äußert Marcel, der Erzähler von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ über eine Gruppe junger Frauen, denen er in „Im Schatten junger Mädchenblüte“ am Meer begegnet. Er entscheidet sich für Albertine, die in der Folgezeit zusammen mit ihm in Paris lebt und schließlich seine „Gefangene“ wird. Die 1950 als Kind polnisch-jüdischer Eltern in Brüssel geborene Regisseurin Chantal Akerman greift diese zufällige Auswahl durch den Protagonisten gleich zu Beginn ihres nach Motiven von Proust gedrehten Films „Die Gefangene“ (Belgien 2000) auf: Der Zuschauer sieht grobkörnig verwaschene Super-8-Aufnahmen von mehreren jungen Frauen, die miteinander schwimmen und am Strand spielen. Dann fokussiert die Kamera zwei von ihnen: Ariane und Andree heißen die beiden, wie man kurz darauf erfährt. Simon, so der Name des Protagonisten im Akermans „Die Gegangene“, trifft in diesem Moment seine Wahl. Sie fällt auf Ariane, das ist die Albertine aus Prousts Roman.
Ariane zieht bei Simon ein. Doch es reicht ihm nicht, dass sie zu ihm zu kommen und zu Willen sein muss, sobald er es wünscht. Verlässt sie seine Wohnung, wo er zusammen mit seiner kranken Großmutter lebt, verfolgt er sie mit seinem altmodischen Wagen oder bittet ihre Freundin Andree, ihm von ihren gemeinsamen Aktivitäten Bericht zu erstatten. Die Filmwissenschaftlerin Birgit Kohler schreibt in einem Aufsatz mit dem Titel „Freiheit, Klarheit, Einsamkeit. Chantal Akerman und ihre Filme“, der zusammen mit einem Interview des Journalisten Thilo Wydra mit der Regisseurin sowie einem Beitrag „Der stille Verrat“ des Schriftstellers Ulrich Peltzer ein kleines Heft füllt und der DVD beigegeben ist, über das Verhältnis der beiden zueinander: „Diese Geschichte zweier Liebenden, Ariane und Simon, ist gleichzeitig die Geschichte einer Obsession, der Obsession des Mannes, der Frau so nahe wie möglich zu kommen und sie deshalb permanent zu überwachen und auszufragen.“
Akerman spricht in Wydras Interview mit dem Titel „Liebe kann überdauern – ohne daß man abhängig ist“, selbst von einem „obsessionellen Film“, und zwar „in jeder Hinsicht. Selbst die äußere Form verstärkt die Obsession, um die es hier geht. Sie hilft auch, sie stärker zu fühlen, sie wirklich zu spüren.“ Wie sieht diese äußere Form aus? „Die Gefangene“ ist ein stiller Film. Der Blick konzentriert sich, so Ulrich Peltzer in seinem Beitrag, „wie in einem nach außen gestülpten Innenraum“ auf die Bewegung der Figuren, „ohne Ablenkungen durch das, was für gewöhnlich als Zeichen der Gegenwart herhalten muß“. Simons Obsession, der Wunsch, Ariane zu besitzen, steht dabei genauso im Mittelpunkt wie ihr großer Wille, ihre Freiheit zu bewahren.
Simon leidet darunter, dass es ihm trotz vieler Versuche nicht gelingen will, ihrer vollkommen habhaft zu werden. Denn auch in Momenten größter Intimität gelingt es ihr, sich ihm zu entziehen und ihn gleichzeitig verwirrt und misstrauisch zurückzulassen. Misstrauen hegt er auch gegen Arianes Freundinnen, von denen er glaubt, dass sie seiner Geliebten ab und an „zu nahe“ kommen würden. Er kann nicht begreifen, dass es ihm nie möglich sein wird, mit ihr total zu verschmelzen, im Gegenteil, dass der andere letztlich immer fremd bleiben muss. Dafür steht vor allem eine Szene, in der beide Seite an Seite in zwei durch eine geriffelte Scheibe getrennten Badewannen liegen. Ariane steht schließlich auf, um sich abzutrocknen. Simon tut es ihr nach, nähert sich ihr und küsst sie auf den Mund – mit dem Glas zwischen ihnen. Für ihn bleibt seine Freundin, wie er es auch anstellen mag, am Ende unerreichbar.
In „Die Gefangene“ stellt Chantal Akerman ausschließlich das ambivalente Verhältnis der beiden in den Mittelpunkt. Alles andere – und damit auch die anderen Figuren – rückt deutlich in den Hintergrund. Die kranke Großmutter, mit der der Protagonist zusammenlebt, ist nur ein einziges Mal zu sehen, Freunde der beiden treten nur selten und dann auch nur kurz auf. Simon drängt sie durch sein Verhalten im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Blickfeld des Zuschauers. Selbst Paris, die Stadt, in der die Geschichte angesiedelt ist, sieht man beinahe nur durch das Auto, in dem Simon und Ariane ab und an miteinander fahren. Zwar sind die Sehenswürdigkeiten und Parks zu erkennen, doch sie erscheinen dann seltsam verlassen. Die Stadt, alles, was außerhalb von Simons Welt liegt, wird ausgeblendet, wirkt leer und gedämpft. Selbst die Handwerker, die sich ständig in der Wohnung aufhalten, um sie zu renovieren, hört man nicht reden. Und auch der junge Hausherr selbst flüstert mit heiserer Stimme beinahe während des gesamten Films. Die Einzige, die sich von der Stille nicht einschüchtern lässt, in normaler Lautstärke spricht und gelegentlich sogar singt, ist die „Gefangene“.
Doch als wirklich gefangen erscheint letztlich nicht Ariane, sondern Simon selbst. Er ist derjenige, der sich ausschließlich mit ihr befasst. Als Privatier, der vermögend ist und sich nebenbei mit Literatur auseinandersetzt, kennt er schließlich keine andere Beschäftigung als sich ganz seinen Wunschfantasien hinzugeben. Spürt er Verlangen nach ihr, muss sie stets abrufbar sein und sich ihm hingeben. Hat er plötzlich die Befürchtung, das Zusammensein mit ihr, ja die gesamte Beziehung nicht länger ertragen zu können, trennt er sich von ihr, um sie dann doch wieder zu sich in die Wohnung zurückzuholen und sein Spiel mit ihr von vorne zu beginnen.
„Die Gefangene“ erinnert in ihrer Art nicht nur an die Romanvorlage von Proust, sondern auch – und abgesehen von einigen Zitaten aus Alfred Hitchcocks „Vertigo“ (1958) – an einen Film von François Truffaut, von dem der französische Regisseur in einem Interview einmal sagte, dass der Film auch so aufzufassen sei, als würde Marcel Proust auf die Brontë-Schwestern treffen. Der Titel des 1971 entstandenen Films lautet: „Die beiden Engländerinnen und der Kontinent“. Er spielt im Paris der Jahrhundertwende: Der 19-jähirge Claude Roc lernt die gleichaltrige Britin Anne Brown kennen. Ihre Passion ist die Bildhauerei, die sie auf dem Kontinent studieren möchte. Noch im selben Jahr nimmt Claude eine Einladung nach Wales an, wo er Annes ältere Schwester Muriel kennen lernt. Diese fasziniert ihn zugleich durch ihren Humor und ihre puritanische Strenge. Sie verloben sich, um sich dann aber wieder zu trennen. Daraufhin wendet sich Claude Anne zu, die ihn in Paris besucht. Später reist Muriel ebenfalls in die französische Hauptstadt und kommt mit ihrem früheren Verlobten zusammen. Als sie davon erfährt, dass er und Anne eine Affäre miteinander gehabt haben, wird sie krank. Doch es ist nicht sie, sondern ihre Schwester Anne, die bald an Tuberkulose stirbt. Auf ihre Erlebnisse gestützt, schreibt Claude in der Folgezeit einen Roman über ihre Liebe zu dritt. Erst danach ist Muriel in der Lage, zu ihm zurückzukehren. Allerdings verlässt sie ihn bereits wieder nach der ersten Liebesnacht. Und Claude bleibt allein zurück.
Nicht das gesamte Szenario, jedoch bestimmte Elemente wie eine gewisse Statik und Ernsthaftigkeit der Figuren, aber auch verblüffend ähnliche Szenen wie beispielsweise ein Besuch von Ariane in einem Museum mit lauter Plastiken erinnern und verbinden Akermans Film mit dem von Truffaut. Ferner ähnelt nicht nur (äußerlich) der von Stanislas Merhar gespielte Simon dem von Jean-Pierre Léaud dargestellten Claude in „Die zwei Engländerinnen“. Auch verbindet ihre Idee von der Liebe, die jedoch praktisch nicht lebbar ist, beide Filme. Und auch bei dem jungen Schriftsteller und Kunstkritiker in Truffauts Film, dem übrigens der gleichnamige Roman von Henri-Pierre Roché (1879-1959) zugrunde liegt, rücken die Beziehungen zu Freunden und die Beschäftigung mit der Literatur in den Hintergrund, wenn eine der beiden Schwestern in seinem Leben wiederauftaucht. Und zu guter Letzt: Genauso einsam wie Claude am Anfang und Ende bei Truffaut wieder ist, so ist auch Simon zum Schluss von „Die Gefangene“ wie zu Beginn wieder allein. Der Kreis schließt sich: Erneut sieht man einen Strand. Diesmal ist es jedoch schon dunkel geworden. Ein Boot nähert sich allmählich der Küste. Darin befinden sich der Besitzer, der es lenkt, und vor diesem, frierend in eine Decke eingewickelt, Simon, der traurig vor sich hinschaut. Vergeblich hat er nach Ariane Ausschau gehalten.
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