Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur
Özkan Ezli, Dorothee Kimmich und Annette Werberger bündeln in „Wider den Kulturenzwang“ Analysen zu kulturellen Grenzziehungen
Von Susan Mahmody
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVorstellungen von dem, was ‚eigen‘ und was ‚fremd‘ ist, liegen dem Selbstbild einer Kultur als fundamentaler Bestandteil zugrunde. Ohne das ‚Fremde‘ kann das ‚Eigene‘ nicht definiert werden und umgekehrt besteht das ‚Fremde‘ nicht, ohne dass bekannt ist, wovon sich dieses abgrenzt. In unserer postmodernen, globalisierten Welt wird eine klare Abgrenzung dieser beiden Elemente mehr und mehr als unmöglich entlarvt und vermeintlich gefestigte Identitäten erscheinen als dynamische und fragmentarische Konstrukte. Dass sich diese Entwicklungen auch auf literarischem und filmischem Sektor widerspiegeln, diskutiert der von Özkan Ezli, Dorothee Kimmich und Annette Werberger herausgegebene Band „Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur“.
Bereits der Untertitel macht auf die drei Komponenten des Werkes – Kulturalisierung, Schreibweisen der Migration und Weltliteratur – aufmerksam. Im ersten Teil werden Funktionsweisen von kulturalistischen Zuweisungen kritisch diskutiert. Ausgewählte ethnologische und soziologische Fallbeispiele zeigen die Tendenz auf, dass die Grenze zwischen dem, was als das ‚Eigene‘ und dem, was als das ‚Fremde‘ betrachtet wird, in Folge von Prozessen der Migration und Globalisierung zwar durchlässiger, durch Ereignisse wie die Anschläge vom 11. September 2001 jedoch gleichzeitig auch verfestigt wurde und wird. Auch Migranten sehen sich durch ihre Umgebung oft kulturalistischen Zuschreibungen auf Basis von ethnischer Herkunft oder Religion ausgesetzt. Als Folge davon werden sie in vielen Fällen vor die Wahl gestellt, sich für ‚eine Seite‘ zu entscheiden: die ‚eigene‘ oder die der neuen Umgebung. Ein Teilnehmen an beiden Kulturen im Sinne einer transkulturellen Lebensweise scheint unmöglich. Solche Zuschreibungen und Subjektivierungsstrategien, die in Pauschalisierungen ganzer Bevölkerungsgruppen münden, fänden sich aber nicht nur im alltäglichen Leben, sondern verstärkt auch in der internationalen Ausländer- und Migrationspolitik, in der eine systematische Einbindung von Religion (besonders des Islam) zu beobachten sei, die durch eine einzige Begründung durchgeführt wird: Gefahrenpotentiale von der Bevölkerung abzuwenden.
Der zweite und dritte Teil des Bandes zielt darauf ab, Veränderungen in Kultur, Literatur, Film und den Wissenschaften durch transkulturelle Bewegungen in den Zeiten der Globalisierung aufzuzeigen und sie kulturtheoretisch zu verorten. Hier wird somit eine Gegenbewegung zu den Tendenzen der Kulturalisierung aufgezeigt: eine Transkulturalität, in der Kultur transzendiert wird. Deutsch-türkische Filmproduktionen etwa von Fatih Akın, Buket Alakus, Thomas Arslan und Ayşe Polat benutzten Kultur als Material und nicht als Ziel der Selbstbestimmung. Das Kino der Fremdheit und der Abbildung der als anders postulierten Kultur wandelt sich zu einem „Kino der Métissage“, in dem „offene Formen des Zusammenlebens in einer hybriden, urbanen Gesellschaft“ zentral stehen.
Dieselben Entwicklungen sehen die Autoren auch bezüglich der Literatur von Migranten: „Wenn der Kulturenzwang einheitliche und ganzeinheitliche Kultursubjekte konstituiert, die eine Entweder-oder-Struktur implizieren und dabei von einem geobotanischen Menschenbild ausgehend Kultur nur als abstrakt-reine Identität ideomotorisch denkt, treffen wir in den literarisch und filmisch bearbeiteten Migrationen von Menschen und Dingen, in den weltweiten transkulturellen Zirkulationen von Texten auf komplexe Verhandlungen von Kulturen, die zwar künstlerisch geformt, jedoch realen Lebensgeschichten entnommen sind und so eine zentrale sensitive Ebene einführen.“ Als ausgewähltes Beispiel möge das der sogenannten ‚Kanak Sprak‘ dienen, die die ästhetische, sprachliche und soziale Verortung von Schreibweisen der Migration besonders prägnant darstellt. Die Autorin des betreffenden Beitrags, Yasemin Yıldız, zeigt auf, dass sich ‚Kanak Sprak‘ als (abgrenzendes?) Kommunikationsmittel darstellt, und gleichzeitig als Identifikationsmerkmal der ausgeschlossenen deutsch-türkischen Jugendlichen gebildet hat. Zusammengefasst bilden die literaturbezogenen Beiträge ab, dass sich Autoren mit Migrationshintergrund im Allgemeinen weder als Teil einer spezifisch deutschen oder (in den meisten Fällen) türkischen Literatur noch als Teil der Migrationsliteratur sehen: sie benutzen die deutsche Sprache vielmehr als Raum, der mit Kontexten unterschiedlicher Herkunft gefüllt werden kann. Zu dieser Konklusion führen auch die angeführten Interviews mit den Autoren Ilija Trojanow und Feridun Zaimoğlu.
Der dritte Teil schließlich, der sich mit dem Konzept der ‚Weltliteratur‘ und dessen Gültigkeit im Kontext der Masse an transnationalen und transkulturellen Textgattungen und Rezeptionsgewohnheiten widmet, stellt die Existenz von Kulturen als Akteure und Systeme in Frage. Eine Kennzeichnung der Literatur und Kultur als ethnische, sprachliche, homogene und territoriale Einheit sei längst überholt. Der Wandel von regionaler Literatur zu Weltliteratur könne sich durch den Gebrauch literarischer Stilmittel und veränderter intertextueller Perspektiven vollziehen, wodurch auch ein Schritt gesetzt werden könne, das ‚Fremde‘ im ‚Eigenen‘ zu begreifen. So plädiert Ottmar Ette für eine „transareale Sichtweise europäischer Literatur“, der ein grundlegendes Verständnis dafür zugrunde liegen müsse, „dass interlinguale Übersetzungsformen, vor allem aber translinguale Schreibprozesse im Zentrum von Untersuchungen stehen müssen, die ein neues Verständnis der europäischen Literatur als vielfach hochrückgekoppelter transarealer Gemeinschaft entwickeln und vorantreiben wollen“.
Ezli, Kimmich und Werberger legen mit „Wider den Kulturenzwang“ ein interdisziplinäres Buch vor, das in den Gewässern der Ethnologie, der Soziologie, der Kulturwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Politikwissenschaft und der Film- und Theaterwissenschaft gleichermaßen fischt. Die detailliert ausgearbeiteten Fallbeispiele illustrieren die Problemstellung des Bandes eindrucksvoll und nachvollziehbar. Dabei werden nicht nur deutsch(sprachig)e, sondern globale künstlerische, soziale und politische Manifestationen untersucht. Die Beiträge sind allesamt von sehr hohem Niveau, nähern sich den komplexen Themen aber dennoch auf verständliche Weise an.
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