Wer baut am Gerüst des Lebens mit?

„Unverbindliche Erinnerungen“ vom Begründer des radikalen Konstruktivismus Ernst von Glasersfeld

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geburt des radikalen Konstruktivismus aus der modernen Literatur – so könnte man überschreiben, was sich im Sommer 1939 in Irland zugetragen hatte. Halb Dublin machte sich daran, den eben erschienenen Roman „Finnegans Wake“ zu enträtseln – darunter auch der damals 22-jährige Ernst von Glasersfeld. Der Emigrant aus Südtirol schlug sich im neutralen Irland als staatenloser Farmer durch und war mit seinen Sprachkenntnissen gegenüber den Einheimischen klar im Vorteil: Als einziger erkannte er in dem Roman Anspielungen auf den italienischen Philosophen Giambattista Vico. Die Beschäftigung mit Vico führte Glasersfeld jedoch auch zum irischen Philosophen Georges Berkeley, bei dem er seinen Lieblingsgedanken bestätigt finden konnte: dass sich eine Realität außerhalb unserer Wahrnehmung nicht belegen lässt.

Nun soll es immer noch Menschen geben, die im radikalen Konstruktivismus eine Spielart des Solipsismus sehen, für den die Welt nur eine Ausgeburt des Ichs darstellt. Nichts könnte falscher sein: Ein Denken, das ganz auf die Innensicht setzt und die Außenwelt „an sich“ für unerkennbar hält, benötigt zwangsläufig Mit-Konstrukteure. Wer sonst könnte wenn schon nicht die „objektive“ Wahrheit, so doch zumindest die Tragfähigkeit der eigenen Wissens-Konstruktionen bestätigen? Wenig verwunderlich also, dass in den „Unverbindlichen Erinnerungen“ des 92-jährigen Philosophen glücklichen Begegnungen und Freundschaften eine besondere Rolle zukommt.

Zu der für Glasersfelds Denken wohl folgenreichsten kam es 1947 während eines Campingurlaubs mit seiner Familie. Am Ufer des Gardasees lernte er den italienischen Philosophen Silvio Ceccato kennen, der den jungen Autodidakten in einen interdisziplinären Kreis von Wissenschaftlern einführte, in dem an einer neuen Theorie des Wissens und der Sprache geforscht wurde – die Keimzelle eines Denkens, das seit seiner Popularisierung in den 1970er-Jahren Psychologie, Psychotherapie, Pädagogik, ja sogar Literatur- und Medientheorie nachhaltig beeinflusste.

Dabei ist Glasersfelds Forscherleben das genaue Gegenteil von dem, was man heute als „Wissenschaftskarriere“ bezeichnet. 1917 als Sohn eines ehemaligen k.u.k-Diplomaten geboren und in Meran aufgewachsen, brach er 1936 sein Mathematikstudium und damit seine akademische Laufbahn vorzeitig ab, da an der Wiener Universität der „Anschluss“ längst erfolgt war. Lieber schlug sich der passionierte Skifahrer in Australien als Skilehrer durch. Dort besiegte er nicht nur den US-Meister Dick Durrance, sondern lernte auch seine erste Frau Isabel, eine Britin, kennen, mit der Glasersfeld die Kriegsjahre in Irland verbrachte.

In den 1950er-Jahren lebte Glasersfeld zunächst in Mailand, wo er im Auftrag der US-Luftwaffe an Programmen zur maschinellen Übersetzung arbeitete. Mangelnde Rechnerkapazitäten löste er durch den Bau eines heute legendären „Sperrholzcomputers“, in dem die Programmoperationen per Hand nachvollzogen werden mussten. Fortgesetzt wurde das Projekt in den USA, bis Präsident Nixon die Gelder strich. Zum Glück bot die University of Georgia Glasersfeld eine Psychologieprofessur an. Er entdeckte die Erkenntnistheorie Jean Piagets, erfand mit „Yerkish“ eine Symbolsprache zur Kommunikation mit Menschenaffen und begründete mit seinen Mitstreitern Heinz von Foerster und Paul Watzlawick den radikalen Konstruktivismus.

Jedoch: Wüsste man nicht um Glasersfelds Bedeutung, seine Erinnerungen ließen sie dem Leser nur erahnen, so uneitel und zurückhaltend sind sie geraten. Unverbindlich wollen sie sein, weil „Erinnerungen das sind, was einem in den Sinn kommt, wenn man zurückdenkt, nicht das, was seinerzeit geschehen sein mag.“ Und das, was Glasersfeld in den Sinn kommt, sind vor allem die schönen Dinge in seinem (Privat-)Leben – wie heimliche nächtliche Abfahrten vom Piz Mezzaun zu Internatszeiten, Amouren oder abenteuerliche Autotouren zu zweit in den 1930er-Jahren durch Frankreich.

Entstanden ist daher keine „intellektuelle“ Biografie, sondern eine elegant erzählte, humorvolle, anekdotenreiche Lebensgeschichte in Fragmenten. In der das Schreckliche eines Lebens, wenn es denn doch eintritt – wie der unerwartete Embolietod Isabels nach drei glücklichen Ehejahrzehnten – um so schockierender wirkt. Freundschaften, so Glasersfeld, führen „zur Konstruktion einer gemeinsamen Wirklichkeit. Nichts macht das so greifbar wie der Tod eines der Partner […]. Das Gerüst, auf das man Ansichten, Meinungen und das alltägliche Dasein aufgebaut hat, bricht zusammen.“ Später, beim Tod der Mutter, heißt es lapidar: „Was nützen Erinnerungen, […] wenn du der einzige bist, der sie hat?“

Titelbild

Ernst von Glasersfeld: Unverbindliche Erinnerungen. Skizzen aus einem fernen Leben.
Folio Verlag, Wien 2008.
240 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-13: 9783852564012

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