Netzwerk Avantgarde
Hubert van den Berg und Walter Fähnders geben ein Lexikon zu künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts heraus
Von Rolf Löchel
Der Metzler Verlag wird für viele seiner zahlreichen Veröffentlichungen rund um Literatur-, Kultur- und sonstige Geisteswissenschaften gerühmt. Unter anderem für seine meist sehr hilfreichen Lexika etwa zur Literatur- und Kulturtheorie, zu Autorinnen oder zu den Gender Studies. Nun liegt ein weiteres dieser Lexika vor. Diesmal informieren die Herausgeber Hubert van den Berg und Walter Fähnders gemeinsam mit etwa achtzig Beitragenden zwar nicht über alles Wissenswerte zur ästhetischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts (wie sollte das auch möglich sein), aber doch über sehr vieles.
Die Herausgeber selbst haben eine instruktive Einleitung verfasst, in der sie einen Avantgarde-Begriff entwerfen, der diese als „letztlich einheitliches Projekt und zusammenhängendes Netzwerk“ fasst, „bei dem sich die einzelnen Knoten des Netzes aufeinander beziehen“. Diese Knoten, so führen sie fürs erste aus, seien „ästhetisch, organisatorisch und genealogisch auf vielfältige, zugleich einheitliche Weise miteinander verknüpft“. Später präzisieren sie diese Bestimmung noch dahingehend, dass dieses Netzwerk keineswegs „klar strukturiert“ sei. Vielmehr sei es als „rhizomartige[r] Zusammenhang“ gewoben, „der Knotenpunkte aufweist, der aber auch reißen kann, der Querverbindungen enthält, wo verschiedene Fäden zusammenkommen, zugleich unter der Oberfläche verschwinden und deutlich sichtbar oder leicht versteckt wandern, um dann anderswo wieder aufzutauchen“. Eben dies mache Kohärenz und Kontinuität der „vielköpfigen Hydra“ der europäischen Avantgarde aus. Und hier macht sich ein wenig Unbehagen bemerkbar. Das allerdings nur der Metapher der vielköpfigen Hydra gilt. Einmal, weil Hydren stets vielköpfig sind und die Formulierung somit redundant ist; mehr noch aber, weil dem mythischen Wesen bekanntlich für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen, so dass sich diesem Bild gemäß die einander schnell ablösenden ‚Ismen‘ der Avantgarde im Lauf des vergangenen Jahrhunderts nahezu bis ins Unendliche vervielfältigt haben müssten, nachdem doch schon so viele von ihnen untergegangen sind. Doch ist dies nur eine Quisquilie. Insgesamt sind die Ausführungen der Herausgeber einfach zu überzeugend, um sich an dieser kleinen Crux länger aufzuhalten.
Die Lemmata lassen sich vier Bereiche zuordnen. Sie erläutern (1.) Avantgarde-Bewegungen und Ismen, (2.) Kunstgattungen, (3.) Kunstformen und Kategorien der Avantgarde und der Avantgarde-Forschung sowie schließlich (4.) die Entwicklung der Avantgarden in (geografischen) Einheiten wie Staaten, Regionen oder Sprachen. Der Anspruch des Lexikons, „die Gesamtentwicklung der ästhetischen Avantgarde in den einzelnen Künsten“ zu präsentieren, darf mit den vier Kategorien als eingelöst betrachtet werden. Zumal die Einträge in aller Regel das von den Herausgebern mit der Einleitung vorgegebene hohe Niveau halten können. Gelegentlich allerdings macht sich der eine oder andere Beitragende eines gender bias schuldig. So fallen Michael Grisko in seinem Eintrag zur „Bohème“ zwar etliche ihr zuzurechnende Männer ein, genauer gesagt nicht weniger als zwanzig, jedoch nicht eine einzige Frau. Dabei spielten etwa Franziska zu Reventlow, Else Lasker-Schüler und auch Dagny Juel, die Namensgeberin der Kunstzeitschrift „Pan“, in der Berliner beziehungsweise Münchner Bohème alles andere als zu vernachlässigende Rollen.
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