„Ich lebe mit Vorbehalt“

Ein Band der Reihe „Film & Schrift“ erinnert mit einer Sammlung ihrer Porträts, Reportagen und Filmbesprechungen an die durch den Nationalsozialismus in Vergessenheit geratenen Journalistin Lucy von Jacobi

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nichts sei älter als die gestrige Tageszeitung, besagt eine der mal mehr mal weniger treffenden Volksweisheiten. Da wundert es nicht, wenn auch der Bekanntheitsgrad von JournalistInnen eine relativ geringe Halbwertszeit hat. Der Name Lucy von Jacobi (1887-1956) etwa dürfte heute nur noch wenigen geläufig sein. Dabei zählte sie während der Weimarer Republik zu den Namhafteren ihres Handwerks. Dass nun gerade sie so erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht wurde, hängt allerdings nicht nur mit besagter Halbwertszeit zusammen, sondern ist vor allem dem Nationalsozialismus anzulasten. Der hat zwar noch weit größere Verbrechen begangen, doch auch für diejenigen, die wie die Jüdin Jacobi ‚nur‘ ins Exil gezwungen wurden, waren die beruflichen und überhaupt biografischen Folgen der Naziherrschaft allzu oft fatal.

Ihre Person und wenigstens einen bestimmten Teil ihres Schaffens wieder in Erinnerung zu rufen, könnte nun ein ihr gewidmeter Band aus der Reihe „text + kritik“ leisten, der nicht nur zwei-, dreihundert ihrer journalistischen Arbeiten enthält, sondern zudem mit einer umfangreichen Biografie eingeleitet wird, der nicht allzu viel zur eigenständigen Publikation gefehlt hätte. Irene Below hat sie verfasst. Nicht zuletzt die ausführlichen Zitate aus Jacobis bislang unveröffentlichten Tagebüchern machen sie besonders lesenswert.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reüssierte die unter dem Namen Goldberg geborene junge Frau als Schauspielerin am deutschen Theater in Berlin bei Max Reinhard. Doch nach ihrer Heirat mit Bernhard von Jacobi litt sie bald unter der „erzwungenen Untätigkeit als Hausfrau“. Im Schreiben suchte und fand sie schließlich einen „bewussten Befreiungsakt“, wobei sie sich an Felix Salten, einem der bekannten Autoren seiner Zeit, orientierte.

1914 musste sie zwei schwere Schicksalsschläge hinnehmen. Anfang des Jahres starb ihr sechsjähriger Sohn und noch im gleichen Jahr fiel ihr Mann im Ersten Weltkrieg. Ihre nächsten Jahren waren „von Schmerz, Verzweiflung, Selbstvorwürfen und Todessehnsucht“ geprägt. „Ich lebe mit Vorbehalt“, schrieb sie 1915 in ihr Tagebuch. Einige Jahre später sollte sie ein weiteres Mal innerhalb nur eines Jahres mehrere nahestehende Menschen verlieren. Zwischen Sommer 1919 und Sommer 1920 starb nicht nur ihre seit Längerem leidende Mutter, sondern auch ihre nahen FreundInnen Liesl Steinrück und Viktor Tausk. Es war dies die Zeit, zu der sie sich in den Spätausläufern der Münchner Bohème bewegte, etwa im Kreis um Rainer Maria Rilke, der vorübergehend um sie geworben zu haben scheint. Auch mit Arthur Schnitzler war sie bekannt. Besonders verbunden fühlte sie sich dessen Frau Olga und, bis zu deren Tod, seiner Schwägerin, der bereits genannten Liesl Steinrück. Später sollte sie mit Gustaf Gründgens eine „enge, aber auch nicht unkritische Freundschaft“ verbinden.

Um 1920 schrieb Jacobi für etliche expressionistische Publikationen wie etwa die „Neue Erde“, „Der Mensch“, „Der Wagenlenker“ oder „Das Reich“. Außerdem war sie mit „Die Frau im Staat“ in der wohl wichtigsten Zeitschrift des radikalen Flügels der Frauenbewegung vertreten. In dieser von Anita Augspurg ins Leben gerufenen Zeitschrift, die ebenso wohl feministische wie pazifistische Anliegen verfocht, veröffentlichte Jacobi bis 1923 regelmäßig Essays und Buchrezensionen. Doch publizierte sie nicht nur in diversen Printmedien, auch für den Rundfunk war Jacobi tätig. Ihre erste Radiosendung wurde 1924 ausgestrahlt und trug den Titel „Die märchenhaften Frauen in Hauptmanns Werken“.

All dies klingt hochinteressant. Doch bedauerlicherweise enthält der vorliegenden Band keine Texte, die Jacobi in einem dieser Organe veröffentlichte. Denn es wurden ausschließlich Beiträge zum Thema Film und Kino aufgenommen. Sie stammen meist aus der Tageszeitung „Tempo“ des Ullsteinverlags, für die Jacobi ab 1928 als „Redactrice“ tätig war und vor allem kurze Filmbesprechungen schrieb. Unmittelbar zuvor war die Literatin aus finanziellen Gründen genötigt gewesen, eine Stelle als Sekretärin bei Mechtilde Lichnowsky anzunehmen. Anhand des Tagesbuches zeigt Below, wie diese untergeordnete Tätigkeit für die „in glücklicheren Umständen lebende Kollegin“ das Verhältnis zu Lichnowsky „trübte“.

Doch auch mit ihrer Tätigkeit für „Tempo“ wurde Jacobi nicht glücklich, wie ein von Ruth Oelze in einem zweiten Einleitungstext zitierter Brief zeigt, in dem Jacobi über die Anforderungen klagt, welche ihre neuen Arbeitgeber an sie stellten: „Sie werden verstehen, daß man nicht leben möchte, um ‚spritzige‘ Berichte etc für eines d. ersten Blätter zu schreiben. ‚Spritzig‘, ‚spritzig‘, ‚spritzig‘ – dafür bietet man mir ein gutes Gehalt.“

Die Klage führte sie zurecht. Aber auch das gute Gehalt erhielt sie zurecht. Den spritzig zu schreiben, das verstand sie wahrhaftig, wie fast jede der nun veröffentlichten Filmbesprechungen zeigt. Und sie zeigen auch, wie zutreffend Belows Bemerkung über Jacobis „charakteristische Einsprengsel persönlicher Erlebnisse und spontaner individueller Urteile“ ist. Doch nutzte Jacobi die Besprechungen auch schon mal zu allgemeineren Überlegungen. Etwa über die „komisch[en]“ Erwachsenen. „Die Kinder schicken sie ins Theater, um sich den Kopf über des weisen Nathans Ethik und über Torquato Tassos Problematik zu zerbrechen – selbst aber gehen sie mit Vorliebe zum ‚Schwarzwaldmädel‘ oder zu solch herrlichen Drei-Groschen-Abenteuern. Offenbar haben sie als Gymnasiasten schon alle Probleme Hebbels und Kleists zufrieden stellen gelöst und müssen jetzt ihre überanstrengten Köpfe bei diesen Pièces de résistance des Lebens ausruhen.“

Das Gros der dokumentierten Texte Jacobis bilden über zweihundert Kurzrezensionen von Spielfilmen aus den Jahren 1928 bis 1933, also gerade aus der Zeit, zu der sich der Tonfilm anschickte, dem Stummfilm den Rang abzulaufen. Jacobi mochte sich mit der technischen Neuerung allerdings nicht so recht anfreunden. „Wahrscheinlich wird die Tonphotographie bald so vervollkommnet sein, daß die Membrane auch der verflixten Zischlaute Herr wird – aber selbst wenn die zärtliche Heldin den Satz ‚Siegfried, schenk mir einen Kuß!‘ ohne fürchterliches Gelispel herausbringen wird – wird es hoffentlich nicht um den großartigen Kosmopolitismus des stummen Films geschehen sein.“

Untrennbar verwoben mit dem Urteil, das Jacobi über die Filme sprach, war stets dasjenige über die auftretenden SchauspielerInnen. Greta Gabe etwa sei in dem Film „Das göttliche Weib“ „einfach zu schön, um zu versagen: aber ihr liegt nichts vulgäres, nichts Unbeherrschtes, Hemmungsloses, denn ihr Bestes war immer das Verhaltene, Stumm-Ringende, Stumm-Siegende, königlich Unterliegende.“ Doch nicht nur die ernste Filmkunst, auch die Komödie schätzt Jacobi. Charlie Chaplin liebte sie geradezu, mehr noch Buster Keaton. Die Witzchen von Pat und Patachon waren ihr hingegen schlicht zu doof.

Man kann das alles nachvollziehen. Jacobis Männlichkeitsideal hingegen ist geradezu archaisch zu nennen. So geriet sie über den „sehnige[n], wetterfeste[n], stahlharte[n]“ Protagonisten einer Verfilmung von Jack Londons „Lockruf des Goldes“ ganz außer sich: „Donnerwetter! Das ist ein Kerl! So hat sich der liebe Gott vielleicht einen Mann gedacht, als er an den Entwurf ging.“

Neben den Rezensionen der Spielfilme veröffentlicht der vorliegende Band etliche Besprechungen von Dokumentationsfilmen sowie einige Porträts und Reportagen meist aus dem gleichen Zeitraum. Die eine oder andere Reportage stammt jedoch aus den ersten Jahren der Nachkriegszeit. Diese letzten Arbeiten Jacobis sind durch „einschneidende Veränderungen ihres Schreibens“ gekennzeichnet, wie Below feststellt und die aufgenommen Texte belegen. Ihr Stil sprach die Lesenden nun „direkter“ an, „sie schrieb weniger spielerisch und unverbindlich, sondern eher in Form drängender Botschaften“. Die Gründe dafür sieht Below vermutlich zurecht darin, dass Jacobis „Erfahrungen von Faschismus, Vertreibung, Krieg, Widerstand und Vernichtung“ nun den „Hintergrund ihrer Äußerungen“ bildeten.

Das einzig von Jacobi veröffentlichte Buch „Die Apotheke auf der Wiese. Heilkräuterbuch für alle“ scheint so gar nicht in ihr übriges Œuvre, den frühen expressionistischen und feministischen Publikationen sowie den zahlreichen Filmbesprechungen zu passen. Doch täusche man sich nicht. Sie hat es ebenso engagiert verfasst wie ihre frühen Publikationen oder ihre Filmkritiken. Und sie hat es ebenso wie letztere um des Geldes willen geschrieben. Das für das Buch zu erwartende Honorar hatte sie sogar schon im Voraus für eine Toscana-Reise mit einer Freundin verplant.

Die meisten der von Jacobi besprochenen Filme sind verschollen. Auch darum ist der Wiederabdruck ihrer Rezensionen zu begrüßen. Vermitteln die Besprechungen doch einen, wenn auch meist sehr subjektiven Eindruck ihrer Inhalte und ihrer Ästhetik. Gelegentlich sind Lucy von Jacobis Kurzbesprechungen, die sich nur selten über eine ganze Druckseite erstrecken, aber auch recht nichtssagend, geradezu belanglos. Den Verdienst des vorliegenden Bandes vermindert das nicht.

Titelbild

Rolf Aurich / Wolfgang Jacobsen (Hg.): Lucy von Jacobi. Journalistin. Mit Aufsätzen von Lucy von Jacobi. Essays von Irene Below und Ruth Oelze.
edition text & kritik, München 2009.
329 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783869160030

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