Ausbalanciert und abgestürzt

„Die andere Seite“ und die Liebesgeschichte zwischen Alfred Kubin und Emmy Haesele: Zwei Neuerscheinungen zum 50. Todestag des großen Zeichners und Illustrators

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die andere Seite“, Alfred Kubins einziger Roman, erschien bereits 1909; seine prophetischen Qualitäten wurden jedoch erst mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs deutlich. Allzu vertraut erschienen den Zeitgenossen nun die detailverliebten Schilderungen vom Ausbruch amoralischer Triebenergien unter den Bewohnern des fiktiven Traumreichs, von grotesken Orgien der Gewalt, von Anarchie und massenhaftem Sterben.

100 Jahre später könnte man erneut versucht sein, Kubins „phantastischen“ Roman, der Expressionisten wie Surrealisten gleichermaßen begeisterte und jetzt vom Suhrkamp Verlag mit allen Illustrationen der Erstausgabe neu aufgelegt wurde, als bizarre Vorwegnahme zu deuten. Diesmal im Zeichen einer Finanzkrise, die die Fantastilliarde zur allgegenwärtigen Größenordnung zu machen scheint. Denn in dem irgendwo in Zentralasien gelegenen Traumreich des Herrn Patera, in dem ein ewiges stumpfes Zwielicht Tag und Nacht ersetzt, ist es um das Geld seltsam bestellt: Zwar ist der geheimnisvolle Patera so reich, dass er auf der ganzen Welt historische Gebäude aufkaufen und nach der von ihm gegründeten Stadt Perle transportieren lassen kann. Aber die skurrilen Bewohner seines Reiches, die „Träumlinge“, betreiben nur eine „symbolische“ Geldwirtschaft.

„Wie viel einer besaß, wusste er nie“, berichtet Kubins Icherzähler, einer der wenigen Überlebenden des Traumreichs und Zeichner wie sein Autor. „Es wurde Geld gebracht, wieder geholt, man gab aus und nahm ein, Taschenspieler waren sie alle ein wenig… dem Gegner etwas vorzutäuschen, das war der Witz.“ Bezahlt wird mit veralteten, grünspanigen Münzen, Gulden und Talern, und wer sein Spielgeld ausgegeben hat, tut einfach so, als besäße er noch welches. Die Traumleute Perles, Sonderlinge und Käuze aus der ganzen Welt, leben finanziell gesehen in einer Art Monopoly-Scheinwelt, einem ständigen, konsequenzlosen Wechsel von Glück und Unglück, Armut und Reichtum, und nur eine geheimnisvolle Kraft im Hintergrund – wir würden sie heute als Vertrauen deuten – verhindert, dass „alles ins Bodenlose stürzt“.

Am Ende ist es, natürlich, ein Amerikaner, der Büchsenfleischfabrikant Herkules Bell, der dieser großartigen Satire auf den Kapitalismus ein Ende setzt, mit seinem echten Geld das Traumreich überschwemmt, so bei allen die Gier weckt und den Niedergang Perles einleitet. Bell verkörpert den so genannten Fortschritt und gehört zur Proteusfigur Patera wie Yin zu Yang. Ihr Kampf verkörpert Kubins fernöstlich angehauchte Polaritätsphilosophie, wonach das Leben ein ewiges Pendeln zwischen Ja und Nein darstellt, das nur der kreativ meistert, der die Balance halten kann und sich mental in einen Zustand „teilnahmsloser Anteilnahme“ begibt.

Am „Wert der Indolenz“ hielt der Schopenhauerianer Kubin auch fest, wenn es um Frauen ging. Dass die allzu große Leidenschaft zwischen ihm und der jungen österreichischen Zeichnerin Emmy Haesele nicht nur seine Ehe, sondern auch seine seelische Balance bedrohte, dürfte mit für ihr Ende gesorgt haben. Brita Steinwendtner, Organisatorin der Rauriser Literaturtage, hat der 1930 begonnenen Amour fou mit einer schmalen Romanbiografie ein ebenso anrührend wie eindringlich geschriebenes Denkmal gesetzt.

Für Kubin war die Affäre nur eine weitere Gelegenheit, sich seiner ungebrochenen Vitalität zu versichern, für Emmy Haesele war sie die Schicksalsbegegnung ihres Lebens, für die sie Ehe und Familie aufs Spiel setzte und die sie als Frau wie als Künstlerin bis zu ihrem Tod 1987 prägte. Zwischen dokumentarischen und lyrisch-empathischen Passagen wechselnd und mit kursiv gesetzten Originalpassagen aus bislang unveröffentlichten Briefen und Aufzeichnungen Haeseles rekonstruiert Steinwendtner die Liebestragödie, die sich zwischen dem oberösterreichischen Zwickledt, Kubins Rückzugsort, und Unken im Pinzgau, wo Haeseles Mann als Arzt arbeitete, entfaltete.

Während sich die Ehepartner der beiden in Großmut üben und gegenseitig zu trösten versuchen, wird Emmy für Kubin zur „astralen Eva“, zum „Zwillings-Urweib“. Und sie schreibt ihm: „Ja, ich habe Mann und Kinder u. ich liebe sie innig, aber mir ist, als wären sie nur Sprossen von mir, als wären sie in mir enthalten, während Du, Allumfasser, das Ganze enthältst! Du – mein Traum! Ich – Dein Geschöpf!“ Letzteres blieb sie auch, nachdem er sie 1936 verstieß.

Es ist interessant zu sehen, wie die manchmal allzu distanzlose, kitschnahe Empathie Steinwendtners („Die Zurückweisung erlebt Emmy Haesele als Schock. / Unfassbarkeit. / Abgrund. / Alle Jahre, die noch kommen, werden mit diesem Tag verbunden bleiben.“) zweimal an ihre Grenzen stößt. Bei der frühen Begeisterung der Haeseles für die Nazis (Kubin, der mit einer „Halbjüdin“ verheiratet war, stand den Nazis ablehnend gegenüber) ersetzen Fragen der Biografin das Einfühlungsvermögen: „Wie hat Hans Haesele es mit sich vereinbart, radikaler Nationalsozialist und damit Antisemit zu sein und privat eine enge Freundschaft zu einer ‚Halbjüdin‘ zu pflegen, ihr, die ihn ihren Schutzgeist nannte (…)?“

Zur biografischen Herausforderung werden auch Emmys heimliche Besuche in Zwickledt noch Jahre nach ihrer Verstoßung, nach dem Verlust von Mann und Sohn im Krieg. Ruhelos umkreist sie, die in Wien inzwischen selbst erste Anerkennung als Künstlerin erfährt, Kubins Haus, beobachtet wie eine Stalkerin den Zeichner, belauscht seine Selbstgespräche, wie sie 1949 in einem Brief an einen gemeinsamen Freund gesteht: „Das zu tun“, kommentiert die Biografin bestürzt. „Es auch noch anderen zu berichten.“ Dass der längst wieder ausbalancierte Kubin Emmy, als er ihr bei einem dieser Besuche einmal zufällig entgegenkommt, wie eine beliebige Nachbarin grüßt und einfach weitergeht, macht die Künstlerin noch 13 Jahren nach der Trennung fassungslos. „Du Engel mit dem ich ringe“, schreibt sie, „Du Teufel der mich narret.“

Titelbild

Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
308 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518224441

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Titelbild

Brita Steinwendtner: Du Engel du Teufel. Emmy Haesele und Alfred Kubin - eine Liebesgeschichte.
Haymon Verlag, Innsbruck 2009.
192 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783852185866

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