Eine Generation, die keine sein will

In dem Band „Treffen“ äußern sich zehn junge Autorinnen und Autoren zu ihren „Poetiken“

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band „Treffen“ ist, wie der Klappentext – nicht ohne berechtigten Stolz – verkündet, die „erste Buchpublikation von BELLA triste – Zeitschrift für junge Literatur“. Ausgewählt wurden für diese Veröffentlichung jedoch nicht etwa besonders bemerkenswerte literarische Arbeiten herausragender Vertreterinnen und Vertreter einer jungen Autorengeneration; vielmehr baten die (insgesamt immerhin sechs) Herausgeber zehn junge Literatinnen und Literaten darum, jeweils einen poetologischen Text zu verfassen, in dem sie auf ihr eigenes literarisches Schaffen eingehen sollten. Die daraufhin entstandenen „Poetiken“ füllen insgesamt rund 125 Seiten und bilden den ersten Teil des Bandes. Darüber hinaus versammelte man die entsprechenden Verfasserinnen und Verfasser auch noch zu einem „Werkstatt-Wochenende“ in der niedersächsischen Provinz, wo sie „intensive Gespräche“ über ihre Texte und ihre literarischen Positionen führten; die diesbezüglichen Ergebnisse wiederum werden im zweiten Teil des Bandes als „Serie dialogischer Texte“ vorgestellt, die gegliedert ist „anhand von Begriffen, von Schnittpunkten, an denen sich die zentralen Momente der Hildesheimer Begegnung brachen: Generation, Figur, Narration/Struktur, Perspektive, Relevanz, Markt, Universalismus/Fokus, Wirkung und Gegenwartsliteraturen“. Getrennt werden die beiden Textteile des Bandes durch eine Fotoreihe von Michael Frahm, die die jungen Autorinnen und Autoren während des besagten Wochenendes zeigt.

Den Auftakt zu den poetischen Positionen bildet ein Text Jörg Albrechts, dessen erster Roman „Drei Herzen“ 2006 erschien, gefolgt 2008 von „Weltraumpopopernroman“; sein poetologischer Text „Mikrozellen“ präsentiert sich als Bricolage diverser sprachlicher Varietäten und Diskurse: „Zellstrukturen senden: Wut, deine Zellstrukturen empfangen: Vorsicht, Explosivstoff!, & damit sind wir doch schon mittendrin. Nur wenn du mir so was wie Identität unterstellst, kommen wir auch nicht weiter. Das ist wirklich 20. Jahrhundert.“

Albrecht verschmilzt in seinem Text Judith Butler scheinbar ebenso spielerisch mit „Hanni und Nanni“ wie Michel Foucault mit „Jan Tenner“ – alles ist irgendwie ‚gesampelt‘ und damit gleich und dann aber eben doch wieder anders: „Klar, das Wiederholte ist irgendwann nicht mehr das Original, wiederholen & wiederholen & wiederholen, jedesmal anders. Die Differenz zwischen der einen Erinnerung & der anderen ernstnehmen & so erzählen, so in etwa tommorrow_3pm oder tomorrow_mp3?“ In den eingefügten „audio sections“ zitiert er aus den Hörspielen seiner Jugend – vor allem aus „Die drei ???“, die sich über den parlierenden Totenkopf wundern, wobei Albrecht aber gerade die alles entscheidende Stelle zitiert, die all jenen, die das Geheimnis des Schädels bis dato noch nicht kannten, das Hören der gesamten Episode wohl leider verleiden dürfte.

Was seine Texte ausmacht? „Geschichten, die nur von unter Fünf&zwanzigjährigen gehört werden. Geschichten, die nicht für die Geschichte produzieren, sondern für das, was um uns herum ist! Gegenwart is in your extended network. Statt Geschichte schreiben: Gegenwart abschreiben. & natürlich auch: Erinnerung, aber eben nur so, wie das Erinnerte gerade vorkommt, in der Gegenwart. Gegenwart wants to be your friend!“

Pretty funky, möchte man – sich der angesagten, nein, pardon: hippen Diktion Albrechts bedienend – sagen. Als authentischer Ausdruck der Omnipräsenz moderner Medien und des post-modernen Verschmelzens von E- und U-Kultur wird Albrechts Text den einen erscheinen, andere mögen darin aber vielleicht auch eher sich krampfhaft jugendlich suggerierende Trivialitäten und Gemeinplätze sehen.

Gefolgt wird dieser Text von der „Poetik“ Ann Cottons, die die Frage „Warum ich schreibe?“ bedeutungsschwer beantwortet mit „Weil ich nicht weiß, warum ich lebe.“ Literatur dient ihr somit als sinnstiftendes Element, dem eine originär lebenserzeugende und -erhaltende Funktion (im durchaus wörtlichen Sinne) zukommt: „Nein nein: Ich schreibe natürlich einfach, und vor allem solche Poetiken wie diese bloß, weil man davon lebt, dass man macht, wozu man angehalten wird, besonders, wenn man mit Geld geködert wird, beziehungsweise sich aussuchen kann, wie man die gestellten Aufgaben erfüllt.“

An dieses hohe Maß an existentiellem Tiefgang und erfrischender Ehrlichkeit schließt sich Daniela Danz’ „Die Scheu der Stringenz“ an, in dem sie vor allem auf die Rolle des ‚Mythischen‘ in ihren Texten eingeht: „Eine weitere Möglichkeit, dem Mythos nachzugehen oder: nach dem Unsichtbaren zu starren, ist für mich, es in Bezug zu setzen bzw. das Sichtbare, mit ihm in Verbindung Stehende, untereinander in Bezug zu setzen und zu vergleichen.“

Die dadurch angestrebte alätheia einer allem zugrundeliegenden ‚Wahrheit‘ definiert auch Florian Kessler in seinem Text „Bad Gastein. Im Hildesheimer Hafen“ als primäres Ziel seines literarischen Schaffens. In „Ich nicht“ hingegen geht Harriet Köhler der Rolle nach, die personale Identität für die Produktion – und wohl auch Rezeption – von Literatur spielt, wobei sich ihr poetologischer Text streckenweise eher wie eine kulturwissenschaftliche Seminararbeit zu diesem Thema liest.

Ebenfalls mit Fragen von Identität und Biografie befasst sich auch Jagoda Marinić in „As I am“, einem Text, der besonders gelungen ist – weniger allerdings, weil darin eine dezidierte oder überraschend neue Haltung zur Literatur zum Ausdruck käme, als vielmehr durch die eingehende Schilderung verschiedener Rituale, durch die man in der Heimat ihrer Eltern Böses von Kindern abzuwehren hoffte: „In dem Dorf, aus dem meine Eltern stammen und mit ihnen meine erste Auffassung von Welt, hat kein Kind einen Fuß vor die Tür gesetzt ohne Schutzengel, die auf verschiedenen Wegen in die Hosentaschen gezaubert wurden: Die einen bekamen ein in Gold gerahmtes Heiligenbild mit, die anderen eine pfenniggroße Stofftasche mit Salz und Brot, wieder andere nur Salz oder nur Brot, manche Eltern gaben lose Brotkrümel in die Hosentaschen ihrer Kinder.“

Die Bedeutung der genauen Kenntnis der Schauplätze seiner Geschichten stellt Thomas Pletzinger in seinem Beitrag „Die Coladose erzählt von dem, der sie austrank – Vermutungen darüber, wovon Geschichten leben“ heraus, wobei er sich insbesondere auf die Entstehung seines Debütromans „Bestattung eines Hundes“ (2008) bezieht. Die exakte poetologische Bedeutung der eingehenden Schilderung einer Fischvergiftung, die er sich in Techau nach dem Verzehr des „Matjessortiment[s] der Rethschänke samt Speckkartoffeln“ zuzog, erschließt sich allerdings nicht sofort.

In „Von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Erzählens“ wiederum weist Steffen Popp unter anderem auf die narrativ bislang nicht abgebildeten Besonderheiten des Produktionsprozesses von Literatur hin – und lässt die Leserinnen und Leser prompt an seinem Verspeisen einer Birne teilhaben: „Unrekonstruierbare Aspekte des Schreibens, die es mir sympathisch machen. Schnurps – das Obst ist vertilgt, ohne, dass viel Text dabei entstanden wäre. Einige Obstgedanken immerhin. Die erst mal zwischenspeichern. Klick. Noch einmal zwischenspeichern. Pause jetzt, Denkpause. Nichts.“

Lennart Sakowsky geht in seinem sehr knappen Text „fast sprossenlose Leiter zum Heuboden“ auf die Bedeutung von „Grenzzuständen“ für die Literatur ein, bevor Thomas von Steinäcker sich unter der Überschrift „Let’s Roll – vorläufige Gedanken zu einer Literatur im Zeitalter des Marktes und der Massenmedien“ macht, die dann auch den ersten Teil des Bandes beschließen.

Die darauf folgenden Fotos Michael Frahms, die, völlig auf der ästhetischen Höhe der Zeit, den Retro-Charme von Polaroids der 1970er-Jahre versprühen, bieten neben relativ vielen bedeutungsschwangeren Darstellungen leerer Räume auch Porträts der Autorinnen und Autoren – bald in introvertierter Denkerpose, bald in scheinbar intensive Gespräche vertieft. Besonders retro: Eine Reihe von Aufnahmen, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des „Werkstatt-Wochenendes“ auf ihrem Weg durch den Wald zeigen, wohin sich diese (hier werden alle traditioneller Gesinnten erleichtert aufatmen) im Zuge einer Braunkohlwanderung begaben: ‚Spießig‘, so scheint es ‚is the new cool‘.

Der zweite Teil des Bandes bietet durchaus interessante Einsichten, wie etwa Thomas Pletzingers Aussagen zum Versuch junger Autorinnen und Autoren, sich am Literaturmarkt zu positionieren: „Man darf sich nicht abschotten, man muss im für einen selbst vertretbaren Rahmen selbstbewusst nach Marktprinzipien agieren können. Es gibt wenig Traurigeres, als mittvierzigjährige Autoren, denen die Stipendien ausgehen. Und vorher vielleicht schon die Leser. Denen die Literatur somit nicht mehr zur Lebensgrundlage gereicht“; oder auch Jörg Albrechts vehemente Ablehnung des Begriffs ‚Generation‘ – bezeichnet er doch sich und seine Kolleginnen und Kollegen als „Generation, die sich in nichts eins ist, nur darin, daß sie gar keine Generation mehr sein kann.“ Genau darin scheint jedoch – bei allen Meriten – das Hauptproblem des Bandes „Treffen“ zu liegen: Aufschlussreich werden die präsentierten Aussagen der hierin versammelten Autorinnen und Autoren primär für jene sein, die sich zu des einen oder der anderen Aficionados zählen; darüber hinaus ergibt sich aber kein Bild einer wie auch immer gearteten jungen Literatengeneration. Schlimmer noch: Es wird auch deutlich, dass nach nur ‚einem Sommer und einem Herbst‘ nicht alle schon zu ‚reifem Gesange‘ fähig sind – oder, anders ausgedrückt, eine Handvoll von Publikationen macht aus einem Nachwuchsautor oder einer Nachwuchsautorin noch nicht zwingend auch jemanden, der oder die über den individuellen literarischen Schaffensprozess so gewinnbringend reflektieren könnte, dass man das Resultat dieser Überlegungen tatsächlich schon als ‚Poetik‘ bezeichnen sollte – und deren Lektüre, darüber hinaus, von allgemeinem Interesse wäre.

Dass Jugend – oder auch nur Jugendlichkeit – im aktuellen Kunst- und Literaturbetrieb bereits per se als Qualität angesehen wird, lässt sich kaum bestreiten, aber man sollte trotzdem den mittlerweile viel gescholtenen test of time abwarten und jene, der in „Treffen“ Versammelten, die in zehn oder zwanzig Jahren noch von sich reden machen, zu einem (viel) späteren Zeitpunkt noch einmal zu ihren – bis dahin sicherlich viel ausgereifteren – ‚Poetiken‘ befragen.

Titelbild

Martin Bruch / Andrea Franke / Lin Franke / Martin Kordic / Marcel Maas / Stefan Mesch (Hg.): Treffen. Poetiken der Gegenwart.
Bella Triste, Hildesheim 2008.
270 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783981236309

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