Die ersten und die letzten Dinge
Miljenko Jergovic hat seinen Roman „Das Walnusshaus“ ,rückwärts geschrieben‘ und dabei eine neue Form der Erzählung entdeckt
Von Yvonne Pörzgen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit der Chronologie ist es so eine Sache. Sören Kierkegaard bemerkt in „Journale und Aufzeichnungen“, Verstehen könne man das Leben nur rückwärts, leben müsse man es aber vorwärts. Romanautoren setzen diese Einsicht um, indem sie zum Mittel des Rückblicks greifen und Ereignisse aus einer späteren Perspektive interpretieren.
Der bosnisch-kroatische Autor Miljenko Jergovic (geboren 1966 in Sarajevo) treibt diese Idee auf die Spitze, indem er einen ganzen Roman vom Ende her erzählt. Auf der ersten Seite, im Kapitel XV, erklärt Regina Delavales Tochter Diana im Jahr 2002 die Umstände des Todes ihrer Mutter, die auf der letzten Seite in Kapitel I als Regina Sikiric im Jahr 1905 in Dubrovnik auf die Welt kommt. Dazwischen erstreckt sich das lange Leben Reginas in einem ereignisreichen Jahrhundert.
Dem jungen Arzt Dr. Ares Vlahovic wird vorgeworfen, er habe Regina ermordet. Diana erklärt aber, er habe sie und ihre beiden Kinder gerettet. Regina war in den letzten Monaten ihres Lebens nicht mehr sie selbst, hat alle verflucht, die Wohnung verwüstet und alles mit ihren Exkrementen verschmiert. Schritt für Schritt wird der Leser in die Vergangenheit geführt und erfährt, wie Regina ihre Enkelin demütigt, die Beziehungen ihrer Tochter manipuliert, wie ihr Ehemann den Tod findet, die Brüder auf unterschiedlichen Seiten im Zweiten Weltkrieg kämpfen und der Vater zum Patenkind des österreichisch-ungarischen Kaisers Franz Joseph wird.
Dabei treten für Einzelepisoden zahlreiche Nebenfiguren auf wie die Polizeiarchivarin Marija, der Diana zu Beginn des Romans vom Tod der Mutter berichtet, oder Bruno Ekert, in dessen Haus Dianas zeitweiliger Geliebter und Brunos Neffe Gabrijel in Sarajevo lebt und der 1945 durch Selbstmord einer Haftstrafe wegen angeblicher Kollaboration entgeht. Jergovic verfolgt ihre Lebensgeschichten nach und ergänzt so das Tableau des Lebens um weitere Schicksale.
Jede abgeschlossene Erzählung von Menschen beginne mit dem Ende, konstatiert Jergovic in Zusammenhang mit Reginas Mutter Kata, deren Sündenregister auch rückwärts, von der letzten bis zur ersten, betrachtet werden solle. Der umkehrte Überblick über Reginas eigene Sünden weckt die Erwartung, am Ende erfahre man den Grund für die Vulgarität und Aggressivität, mit der sie allen Menschen begegnet und weshalb sie mit 86 eine „beleidigte, enttäuschte und vollkommen vereinsamte Frau“, ist, „die sich um Jahre und das Glück ihres Lebens betrogen fühlte“. Doch diese Erwartung wird nur bedingt erfüllt.
Jergovic analysiert gelegentlich, wie sich Ereignisse auswirken, etwa Reginas Abkehr von ihrem bis dahin geliebten Großvater. Als sie neun Jahre alt ist, schweigt Großvater Niko, als ein Fremder Regina seinen Zeigefinger gegen die Stirn drückt und sie fragt, ob sie eine Seele habe. Sie fühlt sich verraten und verzeiht dem Großvater auch nach dessen grausamem Tod nicht: „Statt die zu schützen, die ihn geliebt hatte und zu ihm gehörte, hatte er Leute geschützt, die er nicht liebte, ja nicht einmal kannte.“
Der Leser kann, wenn er will, diese frühe Enttäuschung als Ursache für eine Störung in Reginas Gefühlshaushalt interpretieren und ihre spätere Grausamkeit damit erklären. Vielleicht fühlt sie sich ja wegen dieses Erlebnisses von ihrer Tochter Diana verraten, als diese sich Reginas Mahnungen zum Trotz ständig die Haare rauft und Regina ihr die Hände mit Sekundenkleber an den Haaren festklebt. Der Autor gibt diese küchenpsychologischen Schlussfolgerungen nicht vor, was auch mit der Erzählperspektive zusammenhängt. Die späteren Ereignisse sind ja schon erzählt, was zuvor kam, ist noch unbekannt.
Ein Aha-Erlebnis bietet das Schlusskapitel, also der Anfang, dann doch, denn erst in diesem Kapitel Nummer I wird deutlich, was es mit dem titelgebenden „Walnusshaus“ auf sich hat. Dass es vorher nie Erwähnung findet, belegt aber, dass es für Regina wohl doch nicht von so großer Bedeutung ist, wie die Tatsache, dass es der Geschichte ihres Lebens den Titel gegeben hat, vermuten ließe.
Als Leitmotiv zieht sich dagegen der Wahnsinn durch die 618 Seiten von „Das Walnusshaus“. Am Ende ihres Lebens ist Regina wahnsinnig und schimpft und schreit ohne Unterlass, aber es gibt kaum eine Figur, der nicht mindestens einmal zurecht oder zu Unrecht der Verlust des Verstandes bescheinigt wird. Während Dianas erster Schwangerschaft befürchtet Regina, Diana könne wahnsinnig werden. Ihr Bruder Bepo ist nach dem Krieg in einer Nervenheilanstalt gestorben, weil er das Essen verweigert hat. Er wolle nicht mehr die Knochen der gefallenen Kameraden essen, die man in den Brotteig mische. Seitdem hat Regina Angst vor dem Wahnsinn: „Wahr ist alles, was der Mensch glaubt. Deshalb ist es auch wahr, dass der Wahnsinn ansteckender als Pest und Cholera ist.“
Eine olympische Erzählinstanz macht den Wahnsinn gar dafür verantwortlich, dass Regina so lange lebt: „Es gibt zwei natürliche Ursachen für den Abschied von der Welt: Die meisten Menschen gehen versöhnt mit dem verlorenen Leben, die anderen enden im Irrenhaus, weil die Seele unversöhnt vor die Hunde geht.“ Der Balkan, der auch und gerade wegen der Kriege in den 1990er-Jahren als irrationaler Ort angesehen wird, erscheint hier als Region des Wahnsinns. Sämtliche Ausbrüche von Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert werden anscheinend als Folge von Wahn und Vernunftverlust erklärt.
In Kapitel XII stirbt Tito, im X. Kapitel revoltieren die Pariser Studenten 1968, und einige Seiten weiter kommt Isadora Duncan bei einem Unfall ums Leben. Alle diese Ereignisse, zu ihrer Zeit Nachrichten, die um die ganze Welt gingen, haben unmittelbare Auswirkungen auf das Leben Reginas oder ihrer Familienangehöriger und gehören somit direkt zum Romangeschehen: Am selben Tag wie Tito stirbt auch Dianas Ehemann Vid Kralev, Reginas Bruder Luka findet die Pariser Studenten lächerlich und der Tod von Isadora Duncan bringt Reginas Mutter auf Gedanken über Glück und Schicksal. Das damit verbundene name dropping lässt den Leser aufmerken und hilft, die Handlung historisch zu verorten. Zudem kann es als Ausgleich dafür gesehen werden, dass die Episoden während des Zweiten Weltkriegs ohne umfangreiches Wissen zu den Partisanenkämpfen und Fraktionsbildungen in Jugoslawien nur schwer nachzuvollziehen sind. Aber danach stürzt die Hindenburg ab und jeder weiß wieder, wo, wann und woran er ist.
Der Kunstgriff des Rückwärtserzählens bietet reizvolle technische Möglichkeiten und weist dem Leser, der sich ständig neu orientieren muss, eine aktivere Rolle als gewöhnlich zu. Er macht aber auch die Identifikation unmöglich. Am Ende des Romans erscheinen außerdem die dann noch ungeborenen Personen wie Reginas Enkel oder Freunde nicht als Möglichkeiten der Zukunft, sondern als verblasste Gespenster, die mit dem Geschehen nichts zu tun haben. Sie sind wie die Nebenfiguren, die kurz aufblitzen und wieder verschwinden.
Im kroatischen Original unterscheidet Jergovic die Herkunft der Menschen, indem er beispielsweise den serbischen Fotografen Pardzik, für den Dianas Ehemann Vid Kraljev als Assistent arbeitet, das serbische Ekavisch sprechen lässt. Regina spricht den im kroatischen Dalmatien verbreiteten Dialekt. In der ausgezeichneten deutschen Übersetzung von Brigitte Döbert müssen diese Unterschiede verloren gehen. Die Übertragung mit deutschen Dialekten wäre unangemessen, ist doch das serbische Ekavisch ebenso als Sprachstandard anerkannt wie das in Kroatien und Bosnien verbreitete Ijekavisch.
Miljenko Jergovic ist national wie international einer der erfolgreichsten kroatischen Schriftsteller. In Deutschland ist er seit Erscheinen der deutschen Übersetzung seines Erzählbandes „Sarajevo Marlboro“ 1996 bekannt. Er ist vielfach preisgekrönt, für „Das Walnusshaus“ erhielt er 2003 den Preis des Schriftstellerverbandes von Bosnien-Herzegowina und 2004 den Preis der kroatischen Zeitung „Jutarnji list“ für das beste Prosawerk. Die meisten seiner Werke sind ins Deutsche übersetzt. Mit „Das Walnusshaus“ wird er seinem Ruf als herausragender Stilist und großartiger Erzähler gerecht. Manchmal wäre zwar weniger mehr gewesen, die eine oder andere Nebenepisode hätte ruhig fehlen dürfen. Insgesamt geht aber das erzählerische Experiment auf und sorgt dafür, dass „Das Walnusshaus“ ein ganz besonderer Familienroman geworden ist.
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