Der seltsame Fall des Hans Henny Jahnn

Ein Nachruf zum 50. Todestag des Hamburger Schriftstellers und Orgelbauers

Von Nanna HuckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nanna Hucke

Dass ein literarisches Œuvre, gerade ein anspruchsvolles, nicht ohne Umschweife seinem Stellenwert entsprechend gewürdigt wird, ist nicht ungewöhnlich. Der mit der Veröffentlichung beginnende Rezeptions- und Bewertungsprozess literarischer Werke ist komplex und abhängig von Faktoren wie gesellschaftlichen Moden, Konventionen und politischen Gegebenheiten, die nicht selten Mechanismen der Zensur bilden und avantgardistische Werke fast gänzlich aus der zeitgenössischen Wahrnehmung verdrängen können. In der Regel führt die Zeit eine Klärung herbei, gesellschaftspolitische Wandlungen und Liberalisierungen finden statt, neue Leser widmen sich dem Werk und betrachten es mit anderen Augen, beurteilen es unabhängiger; und irgendwann, so scheint es, kommen die Qualitäten des Œuvres von selbst zum Vorschein – man weiß, welchen Rang es einnimmt, ästhetisch, politisch und moralisch.

Das Werk des Schriftstellers Hans Henny Jahnn widersteht diesem Prozess der Einordnung seit nunmehr fünfzig Jahren. Nach dem Tod des Autors am 29. November 1959 hat Deutschland sich gesellschaftspolitisch in vielerlei Hinsicht gewandelt, doch die Werke Jahnns sind wie vielleicht nur wenige der deutschen literarischen Moderne noch heute so umstritten wie bereits seine Erstveröffentlichung, das 1919 erschienene Drama „Pastor Ephraim Magnus“. Für dieses wurde der damals 25-jährige Autor von Oskar Loerke mit dem renommierten Kleist-Preis ausgezeichnet, im selben Zuge wurde es verrissen von namhaften Kritiker wie Paul Fechter und Julius Bab.

Die Werke Jahnns stoßen auch heute noch auf ein geteiltes Echo. Es gibt Leser und Interpreten, die seine Werke heftig und mit zum Teil unsachlichen Argumenten ablehnen, und auf der anderen Seite Begeisterte, die jedoch die angeblichen Qualitäten von Jahnns Texten so wenig überzeugend darlegen, dass ihr Urteil das der anderen nicht aufzuwiegen geschweige denn zu überwiegen vermag. Inzwischen ist eine dritte Gruppe in der Kontroverse um Jahnns Werke zwar zunehmend um Sachlichkeit bemüht, hat es aber sichtlich schwer, sich zwischen den konträren Positionen zurechtzufinden und sich ein eigenes fundiertes Urteil auf der Grundlage intersubjektiv überprüfbarer Fakten zu bilden.

Auch die um Sachlichkeit bemühten Interpreten greifen bei der inhaltlichen Annäherung bemerkenswert häufig auf Themen aus dem Privatleben des Autors zurück, was gewiss auch damit zusammenhängt, dass dessen Berufsleben und die zugehörigen Themen hochkomplex sind und über literarischen Sachverstand hinaus Kenntnisse auf anderen Gebieten erfordern. Jahnn war im Zweitberuf Orgelbauer und Herausgeber von Musikkompositionen. Unverkennbar besteht in seinen literarischen Werken ein Zusammenhang zwischen Musik und Sprache, doch welcher Art dieser ist, blieb bislang im Dunkeln; zumal die Inhalte von Jahnns Texten auf den ersten Blick nicht sonderlich musikalisch oder musisch wirken – zumindest von den Plots her gesehen.

Dies gilt auch für die beiden in den Jahren 1949 und 1951 erschienenen, insgesamt an die 2.000 Seiten umfassenden ersten Teile der Romantrilogie „Fluss ohne Ufer“: „Das Holzschiff“ und „Die Niederschrift des Gustav Anias Horn, nachdem er neunundvierzig Jahre alt geworden war“. Im Mittelpunkt des Geschehens steht zwar ein Musiker, der Komponist Gustav Anias Horn, was dieser jedoch in einer autobiografischen Niederschrift aus seinem Leben berichtet, klingt haarsträubend: Über Jahrzehnte hinweg, so Horn, sei er mit einem Mörder namens Alfred Tutein liiert gewesen. Dieser habe nicht nur, was Horn die ganze Zeit über gewusst habe, dessen Verlobte umgebracht, sondern auch gegenüber späteren, meist jugendlichen Geliebten Horns immer wieder gewalttätige Neigungen an den Tag gelegt. Jedoch distanziert sich Horn in seinem Bericht keineswegs von dem Gefährten Tutein, im Gegenteil, bei jeder Gelegenheit beschwört er seine Liebe zu dem Übeltäter und schildert schließlich auf Dutzenden Seiten, wie er den Leichnam des bedauerlicherweise ebenso frühzeitig wie plötzlich Verstorbenen eigenhändig mumifiziert und fortan in einer Truhe im Wohnzimmer aufbewahrt habe. Besonders verstörend wirkt dabei, dass Horn weder jemals ein Motiv für die Taten des Mörders eruiert, noch klar wird, was ihn selbst dazu brachte, sich wissentlich mit einem Straftäter einzulassen, obwohl es sich bei Horn doch offenbar um einen gebildeten und empfindsamen Menschen handelt, der zur Klärung dieser Fragen in der Lage sein sollte.

So sieht der Leser sich gezwungen, die ihm, wie es scheint, vorenthaltenen Erklärungen selbst zu liefern und wird dabei unweigerlich in einen Bewertungsprozess hineingezogen, der die Motive des schreibenden Autors nicht außer Acht lassen kann. Denn unter moralischen Gesichtspunkten ist das Handeln des Protagonisten zweifellos verwerflich; doch selbst wenn sich der Leser auf die Position zurückzieht: „All das ist Teil eines Romans und Horn eine literarische Figur“ – die Frage, warum der Autor die Geschichte erzählt, bleibt bestehen. Zumindest wer etwas über „Fluss ohne Ufer“ schreiben will, kommt nicht umhin, sich Gedanken auch über die Motive von Jahnns Schaffen zu machen – und wird er im Text nicht fündig, macht er sich auf der Grundlage der dargestellten Handlungen, seiner persönlichen Auffassung von ihrer Bedeutung und passend erscheinender Fakten aus der Biografie des Autors ein Bild von diesem und den Beweggründen seines Schaffens.

Die den Interpreten meist unbewussten und in ihren Deutungen entsprechend unreflektierten persönlichen Bewertungsprozesse bei der Rezeption von Jahnns Werken haben ein Bild des Autors Jahnn hervorgebracht, das heute, nach mehr als fünfzig Jahren Rezeption und Forschung, schon allein in Anbetracht der Fülle von Sekundärliteratur kaum noch zu revidieren ist. Gespalten und unvollständig wirkt das Bild des Autors; in nicht eben feinen Abstufungen changiert es zwischen künstlerischem Genius und seelisch-moralischer Verwirrtheit, musikalischem Schöngeist und literarischer Stümperei. Es spiegelt damit vor allem die Gespaltenheit des Publikums und die gescheiterten Versuche von Lesern und Interpreten, ein konsistentes Bild der Persönlichkeit des Autors und seines Schaffens zu zeichnen.

Jahnn selbst konnte mit den Widersprüchlichkeiten in Bezug auf seine Person nur wenig anfangen. Die sich an ihm und seinen Werken scheidenden Geister waren in ihm sogar so weit geeint, dass er über seine bisweilen fragwürdig erscheinenden literarischen Werke stets sprach, als handele es sich um die schönsten Musikkompositionen. Nach einer Lesung aus der noch nicht publizierten „Niederschrift des Gustav Anias Horn“ im Jahr 1946 beispielsweise bemerkte Jahnn mit Blick auf dieses Werk, „die geschriebenen Worte“ seien „rhythmisch eingeordnet“ und vermittelten „nicht nur eine Bedeutung“, „die durch Übereinkunft festgelegt wurde“, sie seien „vielmehr, wie seit Urzeiten an den Rhythmus, an die Musik der Sprache gebunden“; und er fügte hinzu: „Ich meine, daß es für einen einsichtigen Leser unmöglich ist, zu verkennen, daß Motive, Themen und Strophen die Grundlagen meiner Darstellung geworden sind.“

Tatsächlich funktionieren die Texte wie Musikkompositionen, insofern als darin die Varianten selbst kleinster Motive einen „klanglichen“ Mehrwert produzieren, der den oftmals krude und undurchsichtig wirkenden Handlungsverlauf semantisch kontrastiert und die Bedeutung des fiktiven Geschehens mitunter fundamental verändert. Im Roman „Das Holzschiff“ etwa, der auf hoher See spielt, verschwindet die Verlobte Horns zunächst spurlos vom Schiff, und die Mitreisenden vermuten bald schon einen kriminellen Hintergrund. Auf der Suche nach der Frau finden sie einen Bronzeschacht, der offenbar in einen unzugänglichen Hohlraum in der Mitte des Schiffes führt, sich aber nicht als Eingang benutzen lässt. Am nächsten Tag beschließen sie daher, den Raum von außen aufzubrechen. Nachdem sie die ersten Holzbohlen der zugehörigen Wand entfernt haben, stoßen die Suchenden „auf eine kaum korrodierte Kupfer- oder Bronzeplatte.“ Der nächste Satz im Text lautet: „Unausweichbar war eine Inbeziehungsetzung zum runden Bronzeschacht.“ Tatsächlich aber lässt sich die besagte „Kupfer- oder Bronzeplatte“ noch mit einem anderen Gegenstand in Beziehung setzen, der erst an späterer Stelle des Textes Erwähnung findet, von dort aus aber rückwirkend die Bedeutung der Szene verwandelt: Nachdem die Suchenden die „Kupfer- oder Bronzeplatte“ durchbohrt haben, um in den ominösen unzugänglichen Raum vorzudringen, bricht durch das Loch plötzlich Wasser ein – als hätten sie die falsche, nämlich die Schiffsaußenwand und nicht eine Wand im Innern zum Durchbruch gewählt. Das Schiff geht daraufhin unter, und Folgendes spielt sich vor den Augen der Mannschaft ab, die den Untergang von den Rettungsbooten aus beobachtet: „Der Bug hob sich. Das lichte Grün der vom Seewasser korrodierten Kupferplatten unterhalb der Wasserlinie zeigte sich, wie ein sterbender Fisch die elfenbeinerne Bauchseite zeigt.“ – Bei der „kaum korrodierten Kupfer- oder Bronzeplatte“, auf die sie von innen gestoßen waren, handelte es sich in Wirklichkeit offenbar um die Innenseite der an der Außenseite des Rumpfes angebrachten Kupferplatten. Statt einer Innen- wurde also die Außenwand durchbrochen. Die Wahl der Wand, die es zu durchbrechen galt, aber oblag Gustav Anias Horn, der damit – dies deckt der Bedeutungszusammenhang indirekt auf – offenbar die Absicht verfolgte, das Schiff zu versenken, möglicherweise, um damit die Spuren eines Verbrechens in den Fluten des Meeres verschwinden zu lassen.

Eine musikalische Lesart vermag dem Leser schon im ersten Teil der Trilogie zu enthüllen, dass der Protagonist des Romans nicht nur durch Mitwisserschaft, sondern aktiv in das Verbrechen des angeblichen Mörders verstrickt ist. Der zweite Teil der Trilogie birgt in dieser Hinsicht noch weit größere Überraschungen. Hier lässt sich bei konsequenter Berücksichtung der musikalischen Textstruktur sogar feststellen, dass im Gegensatz zu den Behauptungen des Erzählers nicht Tutein, sondern Horn selbst der Mörder ist – und zwar ein bestimmter, dessen Lebensumstände denen des angeblichen Komponisten unverkennbar ähneln. Mit Zitaten aus den Protokollen, die den Fall Gilles de Rais dokumentieren, verweist Jahnn in der „Niederschrift des Gustav Anias Horn“ auf die Verbrechen des adeligen Serienmörders, der im 15. Jahrhundert eine stattliche Zahl jugendlicher Opfer beiderlei Geschlechts sexuell missbraucht, getötet und ihre Leichen in den Verliesen seiner Burgen aufbewahrt hatte. Als man den Mörder schließlich gefasst hatte und verhörte, zeigte dieser sich weder in der Lage, die Motive seiner Taten anzugeben noch seine Schuld einzusehen. Er schob sie auf den Teufel, den er, wie die Protokolle dokumentieren, bereits des öfteren zu beschwören versucht hatte und dem er sich ebenso innig verbunden fühlte wie Horn dem Mörder Tutein – der in Wirklichkeit offenbar niemals existierte.

Bei näherem Hinsehen handelt es sich bei der Konstellation Horn/Tutein um einen recht klassischen Fall von Persönlichkeitsspaltung, wie er in der modernen Literatur längst vor Jahnn zum Beispiel von Robert Lewis Stevenson in „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ beschrieben wurde. Um so seltsamer mutet es an, dass mehr als fünfzig Jahre ins Land gehen mussten, bis es dem Autor Jahnn endlich gelang, seine Leser auf die Spur des kriminellen Erzählers zu locken. Vielleicht mehr als jeder andere in der deutschen literarischen Moderne zeigt der Fall Hans Henny Jahnn, dass sich die Qualitäten eines literarischen Œuvres keineswegs mit der Zeit von selbst enthüllen. Weit abhängiger als von Moden, Konventionen, politischen Gegebenheiten und deren Wandlung ist die Bewertung eines Werkes von der Rezeption des Einzelnen und seinen Anstrengungen, die Bedeutung des Textes, auch und gerade im wertenden Sinne, zu erfassen. Dem Autor Jahnn war diese Tatsache bewusst; daher wandte er sich nach jener Lesung im Jahr 1946 an das Publikum und sagte: „Sollten Sie einmal in näherer oder ferner Zukunft mein Epos ‚Fluß ohne Ufer‘ in Händen halten und sollte Sie bei einer surrealistischen Darstellung der körperliche Schrecken packen, weil das geschriebene Wort bis in Ihre Eingeweide greift, dann bitte geben Sie es nicht auf, über das nachzudenken, was Sie gelesen haben: denn es ist mein Wunsch, daß die Menschwelt verändert werde.“

Anmerkung der Redaktion: Nanna Hucke hat soeben eine umfangreiche Studie vorgelegt: „Die Ordnung der Unterwelt“. Zum Verhältnis von Autor, Text und Leser am Beispiel von Hans Henny Jahnns „Fluss ohne Ufer“ und den Interpretationen seiner Deuter. Erschienen im Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat sowie open access: http://kops.ub.uni-konstanz.de/volltexte/2009/8775/