Schrittmacher des Humanismus

Zum 50. Todestag des Schriftstellers Hans Henny Jahnn

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Hans Henny Jahnn war zeitlebens eine äußerst vielseitige und umstrittene Figur: Romancier, Dramatiker, Orgelbauer, Komponist, Missionar, Hobby-Architekt, Hormonforscher und Pferdezüchter in einer Person. Doch über all dem thronte eine verbindende Lebensmaxime, die er im Februar 1935 auf einem Vortrag im norwegischen Bergen zum Ausdruck brachte: „Auf allen Wegen und Abwegen ist der Dichter Schrittmacher des Humanismus, des Erbarmens. Er fordert Gnade für Mensch, Tier, Baum und Stein.“

Unter dem bürgerlichen Namen Hans Henry August Jahn wurde das spätere Universaltalent am 17. Dezember 1894 als Sohn eines Schiffszimmermann im Hamburger Stadtteil Stellingen geboren. Den in die Literaturgeschichte eingegangenen Namen gab sich der Dichter 1913 nach Abschluss der Oberrealschule, als er bereits erste literarische Versuche hinter sich hatte. Den großen künstlerischen Durchbruch schaffte Jahnn 1920, als er von Oskar Loerke für sein Theaterstück „Pastor Ephraim Magnus“ den Kleist-Preis zugesprochen bekam. Eine wichtige Lebensetappe des ewig Heimatlosen war da bereits beendet: Das erste Exil, das den radikalen Pazifisten während des Ersten Weltkriegs nach Norwegen geführt hatte.

1923 wurde nicht nur der „Pastor Ephraim Magnus“ – ein durch und durch expressionistisches Stück mit heftigen Attacken gegen Staat, Kirche und Gesellschaft – in Berlin uraufgeführt, sondern Jahnn begann fast zur gleichen Zeit mit der Restaurierung der Arp-Schnitger-Orgel in der Hamburger Jacobikirche. Mit Hilfe der Dichtkunst, der Musik (es sind Eigenkompositionen aus dem Jahr 1915 erhalten) und der von ihm 1920 ins Leben gerufenen Glaubensgemeinschaft „Ugrino“ entwickelte sich Jahnn immer stärker zum Visionär, der einen kollektiven Untergang vor Augen hatte.

Nach seiner an die griechische Antike angelehnten Tragödie „Medea“ (1926) erschien drei Jahre später der erste monumentale Prosa-Entwurf mit dem Titel „Perrudja“. Dieses fragmentarische Epos, das gleichermaßen Züge von Franz Kafka und Robert Musil erkennen lässt, thematisiert das breite Spektrum der libidinösen Irrungen und Wirrungen. Jahnn reduziert das Denken und Handeln seines Anti-Helden „Perrudja“ auf beinahe archaische Triebe.

Seine Werke polarisierten heftig. Von großen Teilen des Bürgertums wurde er aufgrund seiner nicht „salonfähigen“ Themen (Inzest, Homosexualität, Brutalität) vehement abgelehnt, Zustimmung erhielt er jedoch von vielen Schriftstellerkollegen. Allen voran sein Freund Hans-Erich Nossack, der später seine Grabrede hielt, und Thomas Mann: „Mag Jahnn Anstoß erregen bei anderen, nicht bei mir, dem das künstlerisch Kühne immer ein Hauptspaß ist.“

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste Hans Henny Jahnn ein zweites Mal Deutschland verlassen. Über die Schweiz gelangte er nach Bornholm, wo er mehr als 15 Jahre auf einem Bauernhof lebte und sich neben seinen schriftstellerischen Arbeiten der Hormonforschung und der Pferdezucht widmete. Nach Kriegsende, noch ehe das von den Nationalsozialisten verbotene Drama „Armut, Reichtum, Mensch und Tier“ 1948 in Hamburg fünfzehn Jahre nach Fertigstellung zur Uraufführung kam, wurde von den dänischen Behörden Jahnns Vermögen konfisziert. Der Lebensgrundlage beraubt, kehrte er widerwillig 1950 nach Hamburg zurück, wo zur gleichen Zeit die unvollendet gebliebene Roman-Trilogie „Fluß ohne Ufer“ erschien – „eines der mächtigsten Prosawerke deutscher Sprache“, wie Botho Strauß befand.

„Ich entsinne mich, ich lag wachend, mit weit geöffneten Augen schaute ich das Dunkle an. Eine Welt, die durch keinen Gedanken und keine Assoziation zusammengehalten wird. Nur Bilder“, notierte Jahnn über das Entstehen dieses Werkes. Zwar schrieb der Autor ungebrochen weiter, doch seine Stücke wurden immer düsterer; die Einsicht in die eigene Ohnmacht manifestierte sich immer stärker: „Meiner Ansicht nach ist das Theater nicht nur scheintot, sondern wirklich gestorben.“
In der Öffentlichkeit genoss der eigenwillige Individualist weiter großes Ansehen: Er wurde erster Präsident der Freien Hamburger Akademie der Künste, und 1956 erhielt er den Lessing-Preis verliehen. „Was ich schreibe, steht nur in Beziehung zu einer Welt, die es nicht gibt, die sich auch nicht formen wird – die ich in Wirklichkeit vor ein paar Jahrtausenden verfehlt habe“, schrieb Jahnn nach seiner Rückkehr aus seinem Bornholmer Exil an den Schriftsteller Werner Helwig.

Dies gilt nicht nur für das gigantische literarische Œuvre (viele Werke wurden erst posthum veröffentlicht, die meisten bei Hoffmann und Campe), sondern auch für das dahinterstehende Individuum, für den wortgewaltigen Skeptiker und Mahner, dem der ehemalige „Literaturen“-Redakteur Jan Bürger 2003 die äußerst lesenswerte Biografie „Der gestrandete Wal“ (Aufbau Verlag) gewidmet hat. Unmittelbar vor Vollendung seines apokalyptischen Bühnenstückes „Der staubige Regenbogen“, in dem es um bedrohlichen Atomstaub geht, starb Jahnn am 29. November 1959 in Hamburg an den Folgen eines Herzinfarktes.