Welt aus dem Gleichgewicht

Colum McCanns New-York-Roman „Die große Welt“

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oben bleiben oder abstürzen – das ist die Frage, nicht nur für den Seiltänzer, sondern für alle Figuren in Colum McCanns ambitioniertem Roman „Die große Welt“ und letztlich auch für diesen Roman selbst. Ein „Mann in der Luft“, nämlich ein Seiltänzer, der im August 1974 zwischen den Türmen des World Trade Center hoch über New York balanciert, steht im Brennpunkt von McCanns Text, freilich ist es ein Brennpunkt, der kein Zentrum ist, sondern außerhalb des eigentlichen Romangeschehens liegt. Alle Figuren des Romans werden in der einen oder anderen Weise auf den Seiltänzer und seine Kunst bezogen, doch er selbst bleibt als einziger namen- und wortlos.

Aus insgesamt zehn Perspektiven werden der Seiltänzer und die Welt, über der er balanciert, in den Blick genommen. Ciaran Corrigan ist Ire und seinem Bruder James nach New York gefolgt; dieser Bruder ist „kein richtiger Priester, aber einer von den Typen, die irgendwo leben, weil sie denken, daß sie das sollten“, er kümmert sich in der Bronx um die Frauen vom Straßenstrich, lässt sich dafür verprügeln, ausnutzen und verhöhnen. Claire Soderberg führt ein leeres Luxusleben, das ihr peinlich ist, als Frauen aus desolateren Verhältnissen zu Besuch kommen, die wie sie ihre Söhne in Vietnam verloren haben. Lara, gescheiterte Künstlerin, verliert jeden Halt: „Man rammt einen Kleinbus und sieht, wie einem das Leben entgleitet.“ Fernando Yunqué Marcano, vierzehn Jahre jung, klammert sich mit seiner Minolta zwischen den Waggons der U-Bahn fest und wird das Foto seines Lebens schießen, freilich nicht hier unter der Erde, sondern weit oben. Sam ist achtzehn und die Zukunft: „Wir sind in Kalifornien. Wir sind cool. Keine Sorge. Wir sind Computertypen.“ Tillie Henderson „alias Miss Bliss alias Puzzle alias Rosa P. alias SweetCakes“ ist eine von Corrigans Schützlingen, ebenso wie ihre Tochter, und mit Ende dreißig schon Großmutter. Richter Soderberg sieht sein Dilemma darin, „Freiheit und Rücksichtslosigkeit“ zu einem guten Cocktail vermischen zu müssen, er will den wegen Selbst- und Fremdgefährdung vors Gericht gezerrten Seiltänzer freisprechen, schnell, und muss zuvor rasch noch einige Kleinkriminelle aburteilen: „Das Volk gegen Tillie Henderson und Jazzlyn Henderson. Treten Sie vor.“

Adelita liebt Corrigan, jenen der Corrigan-Brüder, der nur seinen Gott lieben darf, und beklagt die „unerträgliche Last der Komplikationen, die er mit sich herumträgt, seine Schuld, seine Freude“. Gloria hat „zwei Männer und drei Jungen verloren“, die Männer ans Leben, die Jungen an den Tod in Vietnam, und deswegen „blaue Flecken auf der Seele“, aber einen fleckenlosen, enormen Körper, mit dem sie vieles auffangen kann, vielleicht auch das Leben zweier Waisenmädchen. Jaslyn schließlich ist eines dieser Waisenmädchen, oder vielmehr: sie war es – sie berichtet als einzige aus der Zukunft, blickt zurück auf das Leben von Mutter und Großmutter auf dem Strich, auf den selbstlosen (gar selbstzerstörerischen) Wohltäter Corrigan und die egoistische Wohltäterin Claire, hat irgendwo das Foto von Fernando Yunqué Marcano liegen und reist nach Irland, um Ciaran und Lara zu besuchen.

Colum McCann versucht, jeder Figur eine eigene Stimme zu geben oder, besser noch, die der jeweiligen Figur von Natur aus gehörende Stimme in seinem Roman einzufangen; dieses Verfahren ist nur eine von mehreren Techniken, die McCann dem „Ulysses“ von James Joyce abgeschaut hat (der Vergleich beider Romane, von McCann an mehreren Stellen des seinen beinahe kokett herausgefordert, geht naturgemäß schroff zu seinen Ungunsten aus).

Jaslyn, der das letzte Kapitel gehört, sucht zwei und zwei zusammenzuzählen, doch die Summe wird nie aufgehen. Colum McCann hat mit dem Motiv des Seiltänzers über Manhattan (den es wirklich gegeben hat) ein geradezu makelloses Thema gefunden; in drei Passagen, die vom Rest des Romans typografisch abgesetzt sind und zusammengenommen so etwas wie ein essayistisches Prosagedicht ergeben, gibt er dem Seiltänzer zwar keine Stimme (ein Tänzer bleibt stumm, bleibt Körper), aber doch eine Perspektive und eine Art Begründung. Der „eigentliche Grund“ für den Drahtseilakt „war Schönheit. Das Gehen auf dem Seil war ein göttliches Vergnügen.“ Der Drahtseilakt zielt mithin auf eine von den Niederungen der Menschenexistenz unbefleckte Reinheit, auf einen Zustand des vollkommenen Gleichgewichts, und folgerichtig zielt McCanns Schreiben in diesen Passagen auf einen Stil der Makellosigkeit. Diesen beherrscht er, das wissen wir aus seinen früheren Büchern, mit einer Kunstfertigkeit, die gelegentlich dem Kunstgewerbe ähnelt und sich dann doch mit seinem Perfektionismus davon abgrenzt.

Aber die Seiltänzerei ist eben nicht der eigentliche Stoff dieses Romans, sondern nur sein Fluchtpunkt. Die Seiltänzerei steht außerhalb der Geschichten, die McCann erzählt. McCann sucht immer wieder einen „Punkt, an dem Geschichten miteinander kollidieren“, und aus solchen Kollisionen konstruiert er jene Teile des Buches, die am Boden spielen. Von Jaslyn heißt es im Schlusskapitel: „Doch im Grunde mag sie Komplikationen. […] Ich mag Leute, die mich aus dem Gleichgewicht bringen.“

Solche Gleichgewichtsstörungen sind Stärke und Schwäche des Romans zugleich. Seine Stärke sind sie, weil sie den Roman erden, ihn in die Niederungen der Leidenschaften und Frustrationen des Lebens hinabziehen, eines Lebens, in dem Pläne scheitern, Hoffnungen zersplittern, Wünsche an der Realität zerbersten. Bei der Lektüre erleben wir das sogar noch deutlicher als die Figuren, weil wir etliche Situationen aus mehreren Perspektiven geboten bekommen und erkennen, dass selbst diejenigen Figuren, die sich mögen und lieben, in diesem Kaleidoskop zerfallender Einzelheiten die Dinge unterschiedlich wahrnehmen und sich in Projektionen verrennen.

Aber die Gleichgewichtsstörungen sind auch die Schwäche des Romans, weil leider die stärksten Kapitel und Passagen ausgerechnet diejenigen sind, die im Gesamtgefüge eher an der Peripherie bleiben. Die teils in Ich-, teils in Er-Form eingefangenen Monologe der Frauenfiguren, zumal derjenigen, die in düsteren sozialen Verhältnissen leben, sind für sich genommen meisterlich geschriebene Charakter- und Lebensstudien, vor allem dann, wenn sie sich auf erzählerische Details und einen naturalistisch-knappen Erzählgestus einlassen. Die für den Gesamtzusammenhang wichtigste Figur ist jedoch der gottgefällige Samariter James Corrigan, ihm ist doch (aus der Perspektive seines Bruders) das erste und längste Kapitel gewidmet, und gerade dieses Kapitel ertrinkt geradezu in Sozialkitsch, krass unglaubwürdigen Klischees und triefendem Pathos. Durchgängig in diesem ersten Kapitel und oft auch in späteren gibt McCann einem Hang zu Deutungs- und Bedeutungsexzessen nach, die Sinn und Zusammenhang stiften sollen, aber den Roman streckenweise ruinieren. Dabei müsste der Autor es besser wissen. Eine Nebenfigur sagt einmal, „daß Dinge eben einfach passierten. Das war eine armselige Logik, aber im Grunde stimmte es. Dinge passierten.“ Wo McCann die Dinge, die passieren, und die Gefühle, die sie freisetzen, einfach festhält, ist er grandios. Aber dann kommt ihm immer wieder seine Deutungswut ins Gehege: „Alles hatte einen Zweck, einen Sinn, eine Bedeutung.“ Dieser Bedeutung jagt er mit unerträglich schweren pathetischen Floskeln nach, die jeden Seiltänzer dieser Welt zum Absturz bringen müssten.

Der „alte Traum von der Sinnhaftigkeit“, über den eine der Figuren sinniert, ist drauf und dran, die unzerträumte Realität dieses Romans zu zerstören. Könnten wir alle tiefsinnigen, alle bedeutungsschwangeren, alle verallgemeinernden und alle aufs Stiften von Zusammenhängen angelegten Sätze aus McCanns Roman streichen, wäre er nur halb so dick und dafür doppelt so gut. „Die große Welt“, nun ja – eine Nummer kleiner wäre die Welt eine schlechtere, der Roman freilich ein besserer geworden.

Anmerkung der Redaktion: Dies ist die erweiterte Fassung einer Rezension, die für die „Neue Zürcher Zeitung“ geschrieben und dort am 12. Oktober 2009 veröffentlicht wurde.

Titelbild

Colum McCann: Die große Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Dirk van Gusteren.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.
537 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498045111

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