Ein Psychoanalytiker als Literaturkritiker

Sigmund Freud interpretiert Stefan Zweigs Werk

Von Jasmin KellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jasmin Keller

„Der Versteher-Anderer hat es in Ihnen zur Meisterschaft gebracht, eigentlich liebe ich aber den Schöpfer (,Verwirrung d. Gefühle‘) noch mehr.“ Sigmund Freud an Stefan Zweig (1928)

Der Begründer der Psychoanalyse ist als Freund der Literatur bekannt, als eifriger Leser, von den Klassikern über die großen Dichter seiner Zeit bis hin zu leichterer Lektüre und Kriminalromanen. Weniger bekannt ist er für Freundschaften mit den Literaturschaffenden seiner Zeit. Im Gegenteil: Oft hat Sigmund Freud bewusst Abstand zu Künstlern gehalten, die seine Nähe suchten (etwa zu den Dadaisten und Surrealisten), obwohl sich diese ganz ähnlichen Themen widmeten wie er. Den Kern seiner Forschung – dass der Mensch, im Gegensatz zu den Erkenntnissen der Aufklärung, nicht autonom und sich nicht im Ganzen selbst bewusst sei – teilte er mit den Literaten seiner Generation, mit Arthur Schnitzler, Hugo von Hoffmannsthal, Hermann Bahr und Karl Kraus, um nur einige Vertreter der Wiener Moderne zu nennen.

Trotzdem – oder gerade deswegen – bestand zwischen Freud und den Schriftstellern, die sich mit der Darstellung innerer Konflikte und unbewusster psychischer Vorgänge, mit „Nervenkunst” beschäftigten, eine ambivalente Beziehung. Obwohl seine Lehre die meisten Künstler zumindest mittelbar beeinflusste, ärgerte man sich, dass Freud vom Kunstwerk auf den psychischen Zustand seines Schöpfers schloss und nicht selten eine Störung diagnostizierte. Freuds vernichtende Urteile über aus seiner Sicht pathologische Künstler (zum Beispiel „Psychopathische Personen auf der Bühne“ aus dem Jahr 1906) brachten verständlicherweise einen Teil der kunstschaffenden Welt gegen ihn auf. Auch wurde ihm vorgehalten, er habe letztendlich nur einen bereits bestehenden, literarischen Diskurs verwissenschaftlicht. Die Schriftsteller hätten das Problem des unfreien Selbst vor ihm erkannt und er schmücke sich mit fremden Lorbeeren.

Freud unterhielt aber auch Freundschaften mit Literaten, und diese erscheinen gerade aufgrund seiner sonst üblichen Distanz besonders interessant. Es stellt sich die Frage: Was brachten diese Schriftsteller – zum Beispiel Hermann Hesse, Thomas Mann, Romain Rolland, Lou Andreas-Salomé, Arnold Zweig und Stefan Zweig – im Gegensatz zu anderen mit, das Freuds positive Wertschätzung zuließ? Sein über dreißig Jahre bestehender Briefwechsel mit Stefan Zweig – laut Freuds Biograf Ernest Jones eine der umfangreichsten Korrespondenzen des Psychoanalytikers – sticht unter diesen Freundschaften aus mehreren Gründen heraus. Denn Zweig war nicht nur Schriftsteller, sondern seine Leidenschaft galt der Erforschung des menschlichen Seelenlebens. „Mir ist Psychologie (Sie verstehen dies wie kein Zweiter) heute eigentlich die Passion meines Lebens,” bekennt er 1926 gegenüber Freud.

In seinen Novellen und als Biograf hat sich Zweig über Jahrzehnte darauf konzentriert, Charakterzüge und Gefühle anschaulich zu illustrieren, Handlungsmuster und Zusammenhänge zu erkennen – kurz: Psychologie zu betreiben. Zweig war außerdem nicht nur ein mit Freud befreundeter Schriftsteller. Als Publizist war es seine erklärte Absicht, die Leistung des Psychoanalytikers öffentlich zu würdigen; nicht zuletzt, um damit die Verleihung des Nobelpreises zu unterstützen – den Freud nie bekommen hat und laut eigenen Aussagen auch nie wollte.

Zweig publizierte Festschriften, rezensierte Freuds Bücher, und 1931 erschien ein ausführliches Porträt der Psychoanalyse und ihres Schöpfers. Auch Sigmund Freud interpretierte ausführlich, allerdings nur selten öffentlich, das Werk Zweigs. Neben ihrer Leidenschaft für den Blick in die Seele teilten die Männer ihre österreichische Herkunft, beide waren Juden, haben viele Jahre in Wien gelebt und sind in den 1930er-Jahren nach London emigriert, wo sie sich auch die letzten Male gesehen haben. Nach Freuds Tod gehörte Zweig neben Ernest Jones und Peter Neumann zu den Rednern während der Trauerfeier. Gründe genug, die Verbindung der beiden genauer unter die Lupe zu nehmen. Im Fokus der folgenden Untersuchung stehen Freuds Kommentare zu Zweigs Novellen und biografischen Essays.

Im Jahr 1908, Freud ist einundfünfzig Jahre alt, sendet ihm der sechsundzwanzigjährige Zweig ein handschriftlich gewidmetes Exemplar seines Dramas „Tersites“. Freuds Antwortbrief auf dieses Geschenk ist der erste Beleg des persönlichen Kontakts zwischen den beiden Männern. Zweigs Dichtungen, „Die frühen Kränze“, sind Freud damals bereits bekannt, und auch der Schriftsteller begegnete mit großer Gewissheit schon in sehr jungen Jahren dem Gedankengut des Wiener Arztes. Bereits in Freuds zweitem Brief, nach dem Lesen von Zweigs Balzac-Essay, kündigt sich eine ähnliche Art des Denkens an. Er schreibt: „In Ihre Gedanken finde ich mich leicht hinein, als wären es meine guten Bekannten.” Am Tersites, der ihm sonst gut gefallen hat, kritisiert er, „ein Nüchterner,” einige Figuren seien ins Extrem getrieben, sogar karikiert.

In den kommenden Jahrzehnten finden sich immer wieder Stellungnahmen zu Zweigs Werk: 1911 nennt Freud den Novellenband „Erstes Erlebnis – Geschichten aus Kinderland“ die „feinsinnigen u psychologisch bedeutsamen Kindergeschichten,” „Drei Meister“ liest er 1920 „mit außerordentlichem Genuss” und 1925 schreibt er über „Der Kampf mit dem Dämon“: „Ich muss es Ihnen einmal sagen, daß Sie mit der Sprache etwas ausrichten können, was Ihnen meines Wissens kein anderer nachmacht. Sie verstehen es, den Ausdruck so an den Gegenstand heranzudrängen, dass dessen feinste Einzelheiten greifbar werden und dass man Verhältnisse und Qualitäten zu erfassen glaubt, die bisher überhaupt noch nicht in Worte gefasst worden sind.” 1928, nach der Übersendung von „Drei Dichter ihres Lebens“, bekennt der Psychoanalytiker: „Etwas von Ihnen zu lesen, bedeutet mir immer intensiven Genuß.”

Leider ist ein Großteil der Korrespondenz nicht erhalten. Die bisher veröffentlichten 77 Briefe deuten aber auf ein herzliches Verhältnis zu dem jüngeren Schriftsteller. Freud äußert sich vielfach bewundernd über Zweigs Sprache und seine psychologische Beobachtungsgabe. Gleichzeitig finden sich positive Äußerungen über den Menschen Zweig. Wie beurteilt er aber die Texte aus psychoanalytischer Sicht?

In der bisher veröffentlichten Korrespondenz finden sich ausführliche Kommentare zum Novellenband „Verwirrung der Gefühle“ und zu einer Anzahl von biografischen Essays. Freuds Gesamturteil zu den Novellen lautet: „Beinahe würde ich wünschen, daß ich den Dr. St. Zweig nie persönlich kennen gelernt und daß er sich nie so liebenswürdig und respektvoll gegen mich benommen. Denn nun leide ich unter dem Zweifel, ob mein Urteil nicht durch persönliche Sympathie beirrt sein mag. Fiele mir ein solcher Novellenband eines mir unbekannten Autors in die Hände, so würde ich gewiß ohne Schwanken feststellen, daß ich auf einen Schöpfer ersten Ranges und eine künstlerische Höchstleistung gestoßen bin. Ich glaube aber wirklich, diese drei Novellen – strenger: zwei von Ihnen – sind Meisterwerke.”

Freud spricht von „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ und „Verwirrung der Gefühle“. Seine Zweig brieflich mitgeteilte Interpretation von „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ wiederholt er ein Jahr später öffentlich in seinem Essay „Dostojewski und die Vatertötung“. Er bezeichnet die Novelle als kleines Meisterwerk, in welchem Zweig verschleiert seinen eigenen, unbewussten Wunsch ausdrücke – ohne davon selbst zu wissen. Dieser im Unbewussten bei Männern immer vorhandene, aber unerfüllbare Wunsch sei der, von der Mutter ins Sexualleben eingeführt zu werden und den vermeintlich gefährlichen Konsequenzen der Masturbation zu entgehen. Spielsucht sei grundsätzlich ein Substitut für den Masturbationszwang und Zweigs anschauliche Illustration der nervösen Hände des Spielers verriete die Originalhandlung.

Diese sehr weitgehende Interpretation wird von Zweig selbst nicht kommentiert und später von Literaturwissenschaftlern und Psychiatern angezweifelt. Die Forscher sehen aber, wie auch Freud, die Ödipus-Konstellation zwischen der zweiundvierzigjährigen Witwe und dem vierundzwanzig Jahre alten Spieler. Mrs. C.’s von Zweig als mysteriös und unvorhersehbar beschriebener Impuls, sich mit dem jungen Mann einzulassen, ist für Freud keinesfalls rätselhaft („einer ihr ganz unbewussten Liebesübertragung auf den Sohn war sie als Mutter nicht entgangen, und an dieser unbewachten Stelle kann das Schicksal sie packen”). Es zeigt sich: Freud erkennt psychoanalytisch eine schlüssige Ursache-Wirkung-Kette, traut Zweig aber nicht zu, diese Zusammenhänge bewusst hergestellt zu haben, beziehungsweise die tiefere Bedeutung seines Textes überhaupt zu kennen. Dessen ungeachtet schreibt er in seinem Essay: „diese glänzend erzählte, lückenlos motivierte Geschichte ist gewiss für sich allein existenzfähig und einer großen Wirkung auf den Leser sicher.”

Die zweite Novelle, „Ungeduld des Herzens“, kreise um die Eifersucht des Vaters auf die heranwachsende Tochter, sein früheres Sexualobjekt und Eigentum. In der dritten, „Verwirrung der Gefühle“, schildere Zweig den Konflikt eines jungen Studenten, der die Liebe seines hochverehrten Professors aufgrund des Verbots homosexueller Bindungen nicht zulassen könne. Das gesellschaftlich Tabu ist für Freud unerklärlich – gleichgeschlechtliche Liebe sei im Einklang mit der bisexuellen Natur des Eros –, aber unumstößlich. Sein Kommentar zu Zweigs Leistung lautet: „Diese Darstellung geschieht nun mit solcher Kunst, Offenheit, Wahrheitsliebe und Innigkeit, so frei von aller Verlogenheit oder Sentimentalität der Zeit, daß ich bereitwillig bekenne, ich kann mir nicht besser Geglücktes vorstellen.” Freud sieht weiter voraus, dass die Kritik diese Ehrlichkeit nicht erreichen, sondern die Verwirrung der Gefühle in der Beziehung zur Ehefrau des verehrten Lehrers vermuten wird. Zweigs Reaktion auf dieses Lob ist – wie zumeist – ein wortreicher Dank an Freud, dessen Mut und Aufrichtigkeit ihm Vorbild gewesen sei, so offen und unzensiert zu denken und zu schreiben.

Auch Zweigs biografische Essays, die als Charakterstudien von real existierenden Personen der Gegenwart oder Vergangenheit für einen Psychologen besonderes Interesse wecken müssen, werden von Freud untersucht. Im Fall der französischen Königin Marie-Antoinette („Marie Antoinette: Bildnis eines Mittleren Charakters“, 1932) habe es sich im Hinblick auf ihre Ehe und einen von der Mutter initiierten Inzest sicher so verhalten, wie Zweig es darstellt. Er lobt weiter: „Wissen Sie, daß Ihre Analyse des königlichen Lausbuben, der seine Mutter (und Tante) der Verführung beschuldigt, absolut zuverlässig ist?” Über „Drei Meister“, Zweigs Gegenüberstellung von Balzac, Charles Dickens und Fjodor Dostojewski, urteilt er: „Die Vollkommenheit der Einfühlung im Verein mit der Meisterschaft des sprachlichen Ausdrucks hinterlassen einen Eindruck von seltener Befriedigung.” Vor allem die Wiederholungen und Steigerungen in Zweigs Text ließen den Kern des Dargestellten – wie bei der Symbolhäufung im Traum – erkennbar werden. Während er aber die Charakterisierung von Balzac und Dickens als restlos gelungen bezeichnet, ist er mit der Darstellung von Dostojewski weniger zufrieden. Freud lobt zwar, Zweig habe fast alle Merkmale von dessen Dichtung richtig erkannt, erklärt ihm aber dennoch den psychoanalytischen Hintergrund einiger Charakterzüge (etwa den von Zweig beschriebenen Dualismus von Dostojewskis Gefühlen als Ambivalenz). Vor allem war Dostojewski aus seiner Sicht kein Epileptiker, sondern seine Anfälle wären hysterischer Natur gewesen. Auf dieser Basis hätte Zweig den Charakter aufbauen sollen, wie er, Freud, es sieben Jahre später selbst tut, in „Dostojewski und die Vatertötung“.

Die beiden Texte über den russischen Schriftsteller sind gleichzeitig ein anschauliches Beispiel für deutliche Bewertungsunterschiede zwischen den Psychologen. Zweig preist Dostojewski in den höchsten Tönen, er sei „der mächtigste Meister und Umwerter seit den Tagen des Testaments.” Sein lebenslanges Leiden habe ihn zum Märtyrer erhoben, tiefe Einblicke in das menschliche Seelenleben und die Welt des Unbewussten habe er gewonnen. Zweig schreibt: „nicht die Psychologen, die Wissenschaftler, haben die moderne Seele in ihrer Tiefe erkannt, sondern die Maßlosen unter den Dichtern, die Überschreiter der Grenzen.” Er nennt Dostojewski „den Psychologen der Psychologen” und stellt fest: „Alles was die Wissenschaft erst später entdeckte und benannte […] alle die telepathischen, hysterischen, halluzinativen, perversen Phänomene hat er voraus geschildert aus jener mystischen Fähigkeit des hellseherischen Mitwissens und Mitleidens. […] Dostojewski beginnt in der Kunst eine neue Psychologie”.

Und Freud? Für den Arzt ist Dostojewski „ein schwer perverser Neurotiker.” „Die Brüder Karamasov“ bezeichnet er zwar als den großartigsten Roman, der je geschrieben wurde, allerdings sei der Autor ein Sadist gewesen, auch gegenüber seinen Lesern, der zudem als Masochist nach Bestrafung gesucht habe. Freud diagnostiziert eine „perverse Triebanlage, die ihn zum Sado-Masochisten oder zum Verbrecher veranlagen musste.” Er schreibt: „Nach den heftigsten Kämpfen, die Triebansprüche des Individuums mit den Forderungen der menschlichen Gemeinschaft zu versöhnen, landet er rückläufig bei der Unterwerfung unter die weltliche wie unter die geistige Autorität.” Er schließt: „Dostojewski hat es versäumt, ein Lehrer und Befreier der Menschen zu werden, er hat sich zu ihren Kerkermeistern gesellt, die kulturelle Zukunft der Menschen wird ihm wenig zu danken haben. Es lässt sich wahrscheinlich zeigen, dass er durch eine Neurose zu solchem Scheitern verdammt wurde. Nach der Höhe seiner Intelligenz und der Stärke seiner Menschenliebe wäre ihm ein anderer, ein apostolischer Lebensweg eröffnet gewesen.” Freud ist zwar von der Größe des Werkes überzeugt, spricht aber seinem Schöpfer diese Größe ab.

Trotz dieses gegensätzlichen Werturteils und abgesehen von der Frage, ob es sich bei Dostojewskis Anfällen um Epilepsie oder eine Neurose gehandelt hat, beschreibt Zweig die gleichen Charakterzüge – Jahre vor Freud. Er illustriert anschaulich Dostojewskis „Liebe zum Leiden” und nennt wörtlich seine sadistischen Tendenzen, auch im Hinblick auf den Leser. Allerdings: Aus seiner Sicht tun diese Tendenzen dem Genie Dostojewskis keinen Abbruch. An anderer Stelle schreibt Zweig: „Das Wort pathologisch gilt nur im Unproduktiven, in der niedern Welt, denn Krankheit, die Unvergängliches schafft, ist keine Krankheit mehr.” Seine Meinung ist an dieser Stelle Friedrich Nietzsches Verständnis vom dionysischen Künstler deutlich näher als Freud.

Zweigs Darstellung von Freud und seiner Lehre, die Psychoanalyse, fand beim Dargestellten weniger Anklang. Von Anfang an war Freud nicht begeistert über Zweigs wohlmeinende Idee eines Porträts, und auch nach dessen Veröffentlichung hatte er einiges daran zu beanstanden. Vor allem stieß er sich an der überaus korrekten, fast schon klein-bürgerlichen Darstellung seiner Person und zählte Zweig brieflich seine vermeintlichen Laster auf. Obwohl er wusste, dass Zweig seine Veröffentlichungen seit Jahren verfolgte, unterstellte er ihm, der Inhalt der psychoanalytischen Lehre sei ihm bis dato fremd gewesen. Letztendlich kritisiert er brieflich aber nur drei Punkte: Die Technik der freien Assoziation hätte mehr Bedeutung verdient; er habe sein Wissen über die Traumdeutung nicht von Kinderträumen abgeleitet; die Tätigkeit des Analytikers sei entgegen Zweigs Überzeugung tatsächlich erlernbar.

Freud hat Zweigs Werk aufrichtig bewundert, vor allem aufgrund des sprachlichen Talents und des psychologischen Einfühlungsvermögens seines Schöpfers. Trotz dieser Bewunderung scheint es allerdings, als wäre der Psychoanalytiker überzeugt gewesen, die Texte besser zu verstehen als ihr Autor. Er traut Zweig nicht zu, die nach seiner Lehre letzte, psychoanalytische Wahrheit hinter dem geschriebenen Wort selbst zu erkennen. Immer wieder erklärt er dem Freund, was seine in den Augen des Analytikers treffenden Beschreibungen wissenschaftlich bedeuten. Zweig kommentiert diese Erklärungen nicht – und so bleibt unklar, ob er sich dieser theoretischen Zusammenhänge bewusst war, sie vielleicht auch bewusst hergestellt hat, oder ob er einige Interpretationen Freuds sogar ablehnt. Klar ist aber: Zweigs psychologisches Einfühlungsvermögen und sein Auge für Zusammenhänge und Wirkungsketten deckt sich in auffallender Weise mit Freuds Verständnis. Diese ähnliche Wahrnehmung ist sicher ein entscheidender Grund für die dreißigjährige Verbindung zwischen dem Schriftsteller und dem Wissenschaftler.

Ob Zweig von Freud aber mehr als den Mut zur Wahrhaftigkeit gelernt hat, also psychoanalytische Theorie von ihm übernommen hat, bleibt offen. Eine teilweise bewusste Anwendung Freud’scher Ideen ist wahrscheinlich, immerhin las er dessen Schriften. Allerdings, so zeigt das Beispiel Dostojewski, unterscheidet sich trotz ähnlicher Wahrnehmung das Werturteil. Zweig kennt keine pathologische Kunst. Der Künstler betreibt Psychologie als Leidenschaft, anders als Freud, der Arzt, für den Psychologie ausschließlich eine Wissenschaft war. Freud unterscheidet zwischen kranken und gesunden Künstlern, unabhängig von der Größe ihres Werkes. Zweigs Charakter – und hier findet sich ein weiteres Indiz für die Wurzeln seiner Freundschaft mit diesem Schriftsteller – findet, soweit man seinen Briefen trauen darf, seine Anerkennung. Einmal hat der Arzt ihn direkt mit Dostojewski verglichen und einen Unterschied zu Zweigs Gunsten erkannt: „Sie sind vom Typus des Beobachters, Lauscher, wohlwollend und liebevoll nach dem Verständnis des unheimlich Großen ringend. Sie sind nicht selbst gewalttätig.”

Sigmund Freud hat die Prosa Stefan Zweigs in einen wissenschaftlichen Jargon übersetzt. Ob diese Übersetzung aber auch eine verborgene Wahrheit ans Licht bringt, also mehr tut als den Inhalt des Textes in eine andere Sprache zu übertragen, sei dahingestellt.

Literatur:

Thomas Anz: Verwirrung der Gefühle. Stefan Zweig und Sigmund Freud. In: literaturkritik.de Nr. 11, 2006.

Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Eine Dokumentation. Band I, herausgegeben von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann, Marburg 2006.

Stefan Zweig: Briefwechsel mit Sigmund Freud (1908-1939). In: Über Sigmund Freud. Portrait – Briefwechsel – Gedenkworte. Frankfurt am Main 1989.

Johannes Cremerius: Stefan Zweigs Beziehung zu Sigmund Freud – Eine heroische Identifizierung. In: Freud und die Dichter, Freiburg im Breisgau 1995.

Sigmund Freud: Dostojewski und die Vatertötung. In: Studienausgabe, Band X, Frankfurt am Main 1969.

Thomas Haenel: Stefan Zweig: Psychologe aus Leidenschaft, Düsseldorf 1993.

Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Band III, Berlin 1962.

Oliver Matuschek: Drei Leben – Eine Biographie: Stefan Zweig, Frankfurt am Main, 2008.

Friedrich Nietzsche: Götzendämmerung – Oder wie man mit dem Hammer philosophiert, Leipzig 1889.

Joseph P. Strelka: Psychoanalytische Ideen in Stefan Zweigs Novellen. In: Literatur und Kritik Nr. 168/169, 1982, S 42-52.

David Turner: Moral values and the human zoo: the ,Novellen‘ of Stefan Zweig, Hull 1988.

David S. Werman: Stefan Zweig and his Relationship with Freud and Rolland: A Study of the Auxiliary Ego Ideal. In: Int. Review of Psycho-Analysis, Nr. 6, 1979, S. 77-95.

Michael Worbs; Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1988.

Stefan Zweig: Drei Meister – Balzac, Dickens, Dostojewski, Frankfurt am Main 2007.

Stefan Zweig: Sigmund Freud. In: Über Sigmund Freud. Portrait – Briefwechsel – Gedenkworte. Frankfurt am Main 1989.

Stefan Zweig: Meisternovellen, Frankfurt am Main, 2001.

Stefan Zweig: Der Kampf mit dem Dämon – Hölderlin, Kleist, Nietzsche, Frankfurt am Main, 2007.