Kindheit als Schicksal und Inspiration

Über Christian Linders detailversessene Böll-Biografie „Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christian Linder, der sich seit den 1970er-Jahren mit Heinrich Böll beschäftigt, ihn damals auch persönlich kennen lernte, hat eine detailreiche Biografie über den Autor vorgelegt. Wie hoch er Böll einschätzt, beweist Linders Feststellung, dass Böll und Thomas Mann die beiden geistigen Repräsentanten Deutschlands im 20. Jahrhundert seien. Schon der von Jean Paul entlehnte Titel seiner Biografie deutet die zeitliche Spannbreite seiner Darstellung an: „Zu beschreiben ist also die Flugbahn des Pfeils, der am 17. Dezember 1917 bei Heinrichs Bölls Geburt in Köln abgeschossen wurde und ihn am 16. Juli 1985 in dem Eifeldorf Langenbroich traf.“

Es ist eine wissenschaftliche und keine chronologische Biografie, aber auch keine Werkanalyse, sondern eine biografische Annäherung und Umkreisung der Person in drei großen Kapiteln: „Der Reisende“, „ Der Staub der Trümmer“, „Das Imperium“. Sein primäres Interesse gilt der Person, seiner Schreibmotivation und den zugrunde liegenden Motiven, weniger der Analyse der einzelnen Werke. Vielmehr versucht er aus dem Werk auf die Person Bölls zu schließen und umgekehrt. Da seiner Meinung nach in der ganzen bisherigen Literatur über Böll noch kein einziges Mal ernsthaft gefragt wurde, warum dieser Mann geschrieben hat, begibt er sich mit diesem Interesse auf Neuland. Er nähert sich Böll nicht mit analytischer Kritik und Kommentierung seines Wirkens und seiner Werke, sondern er versucht, vom Menschen Böll, seinem Herkommen, den Einstellungen, Erfahrungen und Ansichten auf die Konstanten seines Charakters und seiner Schreibmotivation zu schließen. Dazu dienen Linder insbesondere die Briefe Bölls aus der Zeit 1939 1945 an seine Familie, seine Frau und an Freunde.

Man kann Böll als obsessiven Briefschreiber bezeichnen. Linders greift aber auch auf die frühen Werke aus der Nachkriegszeit sowie auf Texte aus dem Nachlass Bölls zurück, die mit dem Erscheinen der Werkausgabe zugänglich wurden. Darüber hinaus konnte er bislang noch gesperrtes Material einsehen. Seine Ausgangsthese: Böll beziehe seine Themen, Motive, Einstellungen und Anschauungen aus seiner Kindheit und seiner Familie. Diese Kindheitserlebnisse seien in „heiligen inneren Zimmern“ gelagert und dann in das Werk integriert worden, so dass sie auch unbewusst das Werk beeinflussen.

Diese These belegt der Biograf vor allem mit Zitaten aus dem umfangreichen Briefwechsel Bölls aus dem Kriege, als dieser während des Zweiten Weltkriegs jeden Tag mindestens einen Brief schrieb. Diese Schreiben sind manchmal sehr emotional und in einer drastischen Sprache verfasst, in der Regel geht es aber um einfache Dinge aus dem soldatischen Alltag in den Kasernen oder der Etappe. Hier zeigt sich der Mensch Böll, und Linder versucht zu ergründen, was die Faszination dieses Autors ausmacht und was an Motiven und Einstellungen in den Briefen zutage tritt, um später in das Werk einzugehen.

Die literarischen Werke Bölls stuft der Autor im Gegensatz zur Person als eher zweitrangig ein. Ja, er lässt eigentlich nur die Kurzgeschichten des literarischen Beginns gelten. Die umfangreichen späteren Romane seien lediglich wegen der Stoffwahl interessant, künstlerisch seien sie eigentlich misslungen. Im Gegensatz zu seiner sonstigen Herangehensweise und Kommentierung belegt Linder diese merkwürdige These kaum und geht damit etwas leichtfertig mit dem literarischen Spätwerk, insbesondere mit den Romanen um.

Gelingt es Linder, ein neues Bild von der Person oder dem Schriftsteller Heinrich Böll zu zeichnen? Unbedingt. Dieses Porträt zeigt tatsächlich neue Facetten, insbesondere in der Ausprägung und Deutlichkeit. Natürlich wusste man, dass das Thema Religion, besonders auch die katholische Amtskirche, eine ganz zentrale Rolle in vielen Texten und in einigen seiner Romane und politischen Äußerungen Bölls spielte. Aber dass sich der Schriftsteller in den Briefen an seine Frau als einer der wenigen Christen in Deutschland überhaupt wähnte, Gott unablässig dankte und einmal sogar Jesus gesehen haben will, ist doch neu.

Ebenso seine damalige ambivalente Haltung zum Krieg. Gerade die frühen Kurzgeschichten sind immer als Antikriegsgeschichten gelesen und rezipiert worden. Nun kann man bei Linder lesen, dass Böll zwar einerseits den Krieg hasste, andererseits sich aber nach der Fronterfahrung sehnte und den Soldatentod dem Märtyrertod gleichsetzte.

Ebenso überrascht es doch, dass Böll zwar durchaus von Diebstahl und Raub der Armee berichtet, aber die Gräuel der Wehrmacht und des Krieges kaum oder gar nicht erwähnt. Sicher sind viele der Augenblicksausbrüche oder Meinungen Bölls dem täglichen Rhythmus der Briefe geschuldet, trotzdem ist es schon bemerkenswert, dass der Autor noch 1944 von einem Sieg Deutschlands ausgeht und ihn auch ausdrücklich wünscht.

Hier wird bei Linder nichts einfach behauptet, sondern im Detail zitiert und zurückhaltend kommentiert. Dieses Verfahren und Vorgehen ist birgt aber auch eine Gefahr und Schwäche des Buches. Es sind insgesamt über 1.000 Zitate, manche über fast eine Seite, andere umfassen nur wenige Wörter. Man kann hier fast von einer Detailbesessenheit Linders sprechen, ohne dass aus dieser Detailfülle immer auch die entsprechenden Erkenntnisse gewonnen würden. Hier wäre es sicher effektiver gewesen, zu straffen, zumal dann die Konsequenzen und die Erkenntnisse aus den Zitaten deutlicher geworden wären. Der ganze Komplex der Kindheit, der Jugend und des Kriegs nimmt mit über der Hälfte des Buches auch einen großen Raum ein.

Dagegen kommen die politischen 1970er- und 1980er-Jahre doch etwas zu kurz. Linder verweist auch auf literarische Vorbilder Bölls. Man wusste von den Einflüssen Fjodor Dostojewskis und Leon Bloys auf die literarische Entwicklung des Autors: Aber Linder zeigt doch das Ausmaß und die Intensität dieses Einflusses auf neue Weise. So prägte Böll seit seiner Jugend die Lektüre Leon Bloys in seiner Einstellung zur christlichen Religion, zur Amtskirche und zum Kapitalismus der Reichen. Auch die Romantisierung der Armut und der einfachen Leute sowie die manchmal zweifelhaften Frauengestaltenschreibt Linder diesem Einfluss zu.

In diesen Kontext gehören auch seine sehr eigenwilligen und oft realitätsfremden Vorstellungen von Liebe, Ehe und Sexualität. Hier kritisiert Linder Böll dezidiert: „In diesen Dingen war er sehr konservativ und vertrat Ansichten, die man nicht nur reaktionär nennen kann, sondern muss.“ Diese Haltung des Schriftstellers zeigte sich von den ersten Nachkriegstexten bis zu den späten Romanen.

Aber es gab auch die andere Seite Bölls. Wurde er angegriffen, konnte er scharf zurückschlagen, was sich nicht zuletzt in der Auseinandersetzung um seinen Artikel im „Spiegel“ zur RAF und seine Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ zeigt. Hier scheute er auch nicht vor Übertreibungen und falschen Anschuldigungen gegen Polizei und Justiz im Rahmen von Ermittlungen gegen ihn und seine Familie zurück. In diesen Fällen wird sein Einsatz für Gerechtigkeit und gegen Willkür doch zunehmend zum hohlen Pathos der Humanität.

Doch nachdem Linder viele Motive und Eigenschaften Bölls beschrieben hat, kommt er zu der Beantwortung der Ausgangsfrage, was die Schreibmotivation Bölls gewesen sei. Die eindeutige Antwort: Die Verteidigung und Konservierung der „Werte seiner Kindheit“. Die innerste Schreibmotivation sei es gewesen, sich für das Leiden seiner Familie und insbesondere seiner Mutter eine Erklärung zu verschaffen. Immer wieder kreisten daher Bölls Texte um einfache Personen und er komme immer wieder auf Themen und Motive wie Kindheit, Vertreibung, Religion, Schwermut, Einsamkeit und Eigenständigkeit zurück.

Hier liege denn auch der Erfolg seiner frühen Werke begründet. Die bleibende Überzeugungskraft seiner frühen Arbeiten und seines politischen Engagements erkläre sich aus der Identität der Literatur mit dem Gelebten. Dies sei in den späten Romanen oder Erzählungen nicht mehr der Fall gewesen. In diesen überwog Linder zufolge die Selbstentfremdung, die man im Leben und Werk des späten Böll nachweisen könnte. Mit der zunehmenden Veränderung der Gesellschaft und der sich anders entwickelnden Realität habe Böll nichts mehr anfangen können. Dadurch habe seine Literatur etwas Subjektiv-Sentimentales, Clowneskes und manchmal sogar Larmoyantes bekommen. Hier habe der Erzählstrom nicht mehr die Eindrücke und Erfahrungen der Kindheit realitätsgerecht in die Texte integrieren können.

Da die Analyse keine Stärke Bölls gewesen sei, habe er die Welt auch nicht objektiviert, sondern vielmehr seine Subjektivität gepflegt und sei einem starken Ich-Ideal gefolgt. Dies habe ihn letztlich zu einem Einzelgänger gemacht, für den das eigene Gewissen, eigene Überlegungen und Gedanken sowie die eigene Moral im Mittelpunkt standen und Gültigkeit hatten. Selbstbewusst beanspruchte Böll auch die Interpretationshoheit über sein Werk und seine Person. Gegen Ende seines Lebens überwogen die Resignation und das Gefühl der Vergeblichkeit und Selbstentfremdung, ja des Scheiterns, was durch seinen Hang zur Schwermut noch verstärkt wurde.

Mit seinem Tod ergab sich auch noch ein letzter Streit um seinen Glauben. Böll wurde trotz seines Kirchenaustritts kirchlich beerdigt und es wurde erzählt, dass Böll vor seinem Tod „Zeichen der Umkehr“ gegeben habe. Dies wurde von der Familie umgehend bestritten. So bleibt es ein Geheimnis, ob Böll, der ja zeitlebens sehr fromm war, tatsächlich in den Schoß der Kirche zurückkehrte. Wer denkt da nicht an Heinrich Heine. Vielleicht fehlt heute sogar eine Person wie Böll, der stets ungeschützt schrieb, sich nicht um Selbstkritik kümmerte und auch nicht eine objektive Darstellung der Welt anstrebte, vielmehr aus dem Verlangen schrieb, einen Widerstand gegen die Welt aufzubauen.

Das unverstellte direkte und emotionale Sprechen, ohne taktische Überlegungen, erklärt seine damalige Wirkung und könnte sicher auch heute noch neue Leser begeistern. Ebenso sein Gefühl für Sinnlichkeit, für den religiösen Glauben und die Gerechtigkeit. Uns diesen Menschen Böll in seinen vielfältigen, manchmal widersprüchlichen Eigenschaften und Ansichten uns näher gebracht zu haben, ist das Verdienst dieser Biografie. Dabei verfährt Linder weder anbiedernd noch wissenschaftlich abstrakt oder denunziatorisch, vielmehr versucht er Böll von dem Klischee des guten Menschen oder des überschätzten und heute belanglosen Schriftstellers zu befreien. Kurz: Wer sich über Böll informieren oder mit ihm beschäftigen will, wird um diese Biografie nicht herumkommen.

Titelbild

Heinrich Böll: Briefe aus dem Krieg 1939-1945. 2 Bände.
Herausgegeben und kommentiert von Jochen Schubert.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
1652 Seiten, 65,90 EUR.
ISBN-10: 3462030221
ISBN-13: 9783462030228

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Christian Linder: Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils. Heinrich Böll. Eine Biographie.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2009.
617 Seiten, 29,60 EUR.
ISBN-13: 9783882216561

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