Statt innerer Ruhe den Horror erleben

A.L. Kennedy berichtet mit ihren Erzählungen den Schrecken der Normalität

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Vielleicht war er wahnsinnig. Gebrochen oder wahnsinnig. Gebrochen und wahnsinnig. Dann tropfte ein Jaulen herein: eine dünnere, jämmerlichere Version seiner Stimme, und sein Geist schien danach zu greifen, beinah getröstet. ‚Niemand hilft.‘“ Nein, niemand hilft. Und niemandem ist zu helfen. Auch Frank nicht, der, wie jeden Freitag, für sie beide eine Suppe kocht: „Er betrachtete es im Stillen als eine Art Opfergabe – ‚hier bin ich, das ist von mir, ein Beweis meiner selbst, ein Zeichen meiner verlässlichen Liebe.‘“ Aber diesmal gleitet das Messer am Kürbis ab: „Erstes Glied, linker Ringfinger, eine Kerbe fast bis auf den Knochen. Blut.“ Sorgsam schaut Frank, wie es Kugeln bildet, bevor es heruntertropft, wie es auf die Fliesen prallt, ein Muster um seine Füße formt. Er schmiert sein Spiegelbild an der Glastür damit ein, wirft das Blut in gepunkteten Kurven auf das Glas, streicht sich über die Stirn. Als seine Frau kommt und ihn entsetzt anstarrt, entschuldigt er sich, dass die Suppe noch nicht fertig ist: „Möchtest du was trinken?“

A.L. Kennedy schreibt von Gefühlen, von heftigen, zerstörerischen Gefühlen. Normalen Gefühlen, die manchmal trotzdem nicht auszuhalten sind. Und deswegen versteckt man sich oder sie, tut sie weit weg. Wie Frank. Denn als seine Frau ihn in der Nacht, nachdem sie ihn geschlagen und einen Blumentopf nach ihm geworfen hat, stundenlang in der Badewanne gelegen hat, fragt, was mit ihm los ist, kann er es ihr nicht erzählen, „weil er es nicht wusste.“

In ihrem neuen Buch „Was wird“ führt Kennedy den Leser wieder einmal tief in die Abgründe des Menschen hinein. Dahin, wo Liebe nicht mehr gelingt, wo Gefühle weggeschlossen sind. Wo es keine Erlösung mehr gibt, nicht durch den anderen, nicht einmal durch Sex. Dahin, wo die Panik so groß ist, dass sie einen innerlich erstarren lässt. Manchmal erhascht man einen Zipfel vom Leben. Öfter aber ist es der Zipfel, der einen erhascht: Wie bei der Frau, die sich in „Samstag Spätnachmittags“ in einem Floating Tank zu entspannen versucht und statt der inneren Ruhe den Horror erlebt: Jene Kindheitsszene durchspielt, in der ihr Vater die Mutter im verschlossenen Schlafzimmer verprügelt. Oder in „Wespen“, wo die Jungen die zerrüttete Ehe ihrer Eltern durch Prügeleien widerspiegeln. Oder in „Mit Gefühl“, wo ein One-Night-Stand grandios misslingt, weil eben kein Gefühl dabei ist.

Kennedy ist eine großartige Chronistin der Gefühlswelt, ihrer Beschädigungen, ihrer Versuche der Selbstheilung. Gnadenlos und mit großem Mitgefühl legt sie die Wunden bloß, die Trostlosigkeit und die erschreckende Normalität in ihr. Unterkühlt präzise, mit schneidender Sachlichkeit, aus den Figuren und ihrer Verzweiflung heraus erzählt sie ihre Geschichten. Und erreicht gerade damit die emotionale Wucht, die den wehrlosen Leser überwältigt und ihm die Luft nimmt. Damit er endlich einmal innehält im normalen Atemholen und Ausatmen. Und in die Lücke springt, die ein neues Leben möglich machen könnte.

Titelbild

A. L. Kennedy: Was wird. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009.
219 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132239

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