Damals in Gorleben

Jo Lendle schreibt in dem Roman „Mein letzter Versuch die Welt zu retten“ über die Schwierigkeiten, sich für das Richtige zu entscheiden

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Die Welt zu retten ist super. Zumindest ist der Vorsatz lobenswert. Wie es sich mit der Umsetzung verhält, wie man nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch den Versuch starten kann, die Welt zu retten, darüber schreibt Jo Lendle in seinem Roman „Mein letzter Versuch, die Welt zu retten“. Dieser spielt an zwei Apriltagen im Jahr 1984. Die bundesrepublikanische Wirklichkeit wird zu dieser Zeit in den Tagesnachrichten von den Protesten und Aktionen aus dem Wendland geprägt. Gorleben wurde zur Endlagerstätte für Atommüll bestimmt und die ersten Atommülltransporte stehen kurz bevor. Der schon seit den 1970er-Jahren gut organisierte Widerstand gegen die Atomindustrie veranlasst nicht wenige, in diesem April 1984 in das Wendland zu „pilgern“ und die Proteste zu unterstützen. Zu ihnen gehört auch der siebzehnjährige Florian, der sich nach genauer Vorbereitung zusammen mit einer kleinen Gruppe von Jugendlichen im Kleinbus der Kirchengemeinde ins Wendland begibt. Seine Motivation ist eindeutig: nicht ausschließlich Protest soll es sein, eigentlich will er nur die Welt verbessern.

Zu diesen Weltverbesserungsplänen gehören vor allem ausgiebige Planungen: „Beim Vorbereitungstreffen waren wir gewarnt worden, auf den Zufahrtsstraßen werde es aller Voraussicht nach Kontrollen geben, wahrscheinlich würde man jeden, der erkennbar dazugehörte, schon im Vorfeld abfangen und in Gewahrsam nehmen. Daher: keine offen herumliegenden Plakate, Flugblätter, keine allzu offensichtlichen Hinweise auf unsere Absichten, keine Anstecker, Transparente usw. Wir ergänzten: keine Kleidung, an der sich unsere Gesinnung allzu deutlich ablesen ließ.“ So präpariert fährt man Richtung Wendland und der Leser hat das Gefühl, einem Klassenausflug oder einer Reise ins Schullandheim beizuwohnen. Die Bedeutung der „Exkursion“ für die „Protestreisenden“ könnte allerdings größer kaum sein: „Dabei war es noch nicht einmal dieser TAG X selbst, dem wir entgegenfuhren, den wir voller Vorfreude und Angst erwarteten wie die Rückkehr des Erlösers.“ Die Formulierung einer eindeutigen politischen Haltung, die vor allem auch ein konkretes Feindbild enthält, ist nicht nur für die Jugendlichen ein sinnstiftendes und pseudo-religiöses Bedürfnis.

Dabei lässt der Autor in der Erzählperspektive des Protagonisten Florian einen leicht ironischen und selbstreflexiven Unterton aufscheinen. Er reflektiert sein Handeln in der Rekapitulation der Ereignisse: „Es ging um alles, um die Nachgeborenen, das System, die Schöpfung, um uns selbst, wir waren groß darin, die andere Seite zu überhören. Woran wir glaubten: an den Sieg der guten Sache, an Ideale, an das, woran zu glauben wir uns geeinigt hatten. Wir hatten Weltanschauungen, wir hatten die Welt ja gesehen und glaubten, sie erkannt zu haben. Der gute Zweck heiligte nicht nur die Mittel, sondern auch uns selbst. Jedes unser Goldenen Kälber war ein unschuldiges Tier mit großen Augen.“ Schon zu Beginn des Romans wird dem Leser mitgeteilt: „Ich, der Erzähler, bin tot“. Er wird im Laufe des Romans sterben. Florian berichtet über die Ereignisse auf einer Metaebene. Diese Erzählsitutation vermittelt einen gewissen Fatalismus, und es wird letztendlich klar, was nun wohl auch der Erzähler – leider zu spät – verstanden hat. Es geht um viel. Aber letztendlich haben die Protagonisten zwar einen globalen Blick, aber ihre eigene Gegenwart, ihr eigenes Handeln, verlieren sich in seiner ganzen Tragweite aus dem Blick. Keine globale, sondern eine lokale, eine persönliche Katastrophe steht allen bevor.

Zum Ende blitzt diese Naivität kurz in einem Nebensatz auf. Der Leser bekommt einen kleinen Einblick in die chaotischen Ereignisse auf den letzten Metern der Flucht Florians durch die Wälder des Wendlands, die ihn in die Nähe der Zonengrenze zur DDR führt. Hier blitzt kurz auf, was schon unterschwellig deutlich wurde: „Wir liefen langsamer, seit wir im Wald waren, das Mondlicht fiel durch die Stämme, aber es war trotzdem viel zu dunkel, um zu wissen, war wir taten.“ Am Ende ist es ein Schock, auch für den Leser. Florian stirbt beim Versuch, die Welt zu retten, an der innerdeutschen Grenze.

Lendle gelingt in seinem kleinen Zeitausschnitt ein authentisches Bild der gesellschaftlichen Stimmung der Jugendlichen, die in diesem Jahr 1984 Teil der Gorleben-Proteste sind. Die Spannung zwischen hohem moralischen Anspruch und Persönlichkeitsentwicklung macht aus dem Buch auch einen Adoleszenz-Roman, dessen Nebenfiguren vielleicht an manchen Stellen ein wenig blass sind, der aber einen über das Jahr 1984 hinaus reichenden Habitus von heranwachsenden Jugendlichen vermittelt. So ist es wohl gewesen, damals!

Titelbild

Jo Lendle: Mein letzter Versuch die Welt zu retten. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009.
248 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421043917

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