Dichtung vom Leben und Dichtung im Leben

Rodica Draghincescu befragt Literaten zum besonderen Status des „Schreiben leben“

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Interviews mit Künstlern, in denen jene Selbstauskünfte zu ästhetischen, moralischen oder gesellschaftspolitischen Positionen erteilen, finden sich allenthalben. Interessant am vorliegenden Buch ist die Zusammenstellung von eigens für diesen Band mit Personen unterschiedlichen Alters und Herkunft geführten Gesprächen zum Thema Literatur. In ihrem Nebeneinander fordern diese Dialoge zum Vergleich der Anschauungen und Ansichten auf, befördern damit eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Gesagten und bieten vor allem aber subjektive Blicke auf die europäische Literaturlandschaft.

Die rumänische Lyrikerin, Prosaautorin, Essayistin und Übersetzerin Rodica Draghincescu hat zweiundzwanzig Schriftsteller und Verleger aus neun verschiedenen Ländern interviewt. Als Kriterium für ihre Auswahl der Gesprächspartner, die zwischen 1923 und 1971 geboren wurden und unter anderem aus Frankreich, Rumänien, Deutschland, Österreich, Ungarn und Russland stammen, gibt sie die besondere Verquickung von persönlichem Leben und dem „Leben in den Büchern“ bei eben jenen Menschen an, denen Literatur nicht nur Lebensinhalt ist, sondern das Leben selbst und die darüber bekenntnishaft Auskunft geben.

Einigen dieser Autoren, wie Yves Bonnefoy, Michel Butor, Maurice Couquiaud oder Gérard Blua, ist sie beispielsweise insofern verbunden, als sie deren Lyrik aus dem Französischen übertragen hat, andere sind ihr durch ihre Heimat Rumänien oder durch Begegnungen in Deutschland bekannt.

Die im Inhaltsverzeichnis vorgenommene und scheinbar zuordnende Unterteilung der Texte in „denken“, „lesen“, sehen“ und „orten“ in Verbindung mit „schreiben“ erschließt sich leider nicht, handelt es sich doch zweifellos um vier eigentlich nicht voneinander zu trennende Tätigkeiten, die mit dem Schreiben stets unabdingbar verbunden sind.

Einleitend befragt der Leiter der Akademie Schloss Solitude Jean-Baptiste Joly zunächst Draghincescu selbst, die in dem Gespräch ihr eigenes künstlerisches Selbstverständnis – sie schreibt Gedichte und Prosa auf rumänisch und französisch, in Deutschland erschienen bisher zwei Lyrikbände in deutscher Nachdichtung – sowie das Konzept ihres Buches darlegt: „Ich habe versucht, die Fragen mit Hilfe eines Mikrofons und einer imaginären Kamera zu stellen, die, statt den Befragten großflächig zu zeigen, Details von Geräuschen und Bildern, Licht, Schatten, Manuskripte, kleine Ecken, Schreibwerkstätten, Stil, Mentalität, Dichtkunst, freier oder gebremster Gedankenfluss, Freude oder Unruhe, Sorge oder Vergnügen ins Blickfeld nahm“ mit dem Ziel, dem Leser jeweils „eine erfrischende, spannende Geschichte“ anzubieten.

Entstanden sind Porträts dieser Wortkünstler, die Auskunft geben über sich selbst, über ihr Schaffen und ihre poetologischen Konzepte. Gleichzeitig sind zumeist tiefgründige Essays entstanden über ihre Ansichten zur Rolle von Schreiben und Dichtung. Die Gespräche verweisen auf die jeweilige individuelle Entwicklung der Befragten im Kontext der Literaturentwicklung des Heimatlandes und enthüllen ganz verschiedene Auffassungen von der persönlichen und gesellschaftlichen Funktion der Literatur insbesondere unter den veränderten Bedingungen der durch rasante Wissenschafts- und Technikentwicklung geprägten Gegenwart einer globalisierten Welt.

Der Begründer des Nouveau Roman, Michel Butor, legt seine Gedanken zur Wirkmächtigkeit der Literatur dar, die nicht nur die Autor-Leser-Beziehung gestalte, sondern als Fiktion die Wirklichkeit verändere. Er spricht an, was in anderen Interviews weiter ausgeführt wird: Die globalen politischen und technischen Veränderungen in der Welt „zwingen zu einem Umstrukturieren […] unseres ganzen geistigen Raumes.“ Maurice Couquiaud, persönlich dem Dialog zwischen Künstlern, Philosophen und Naturwissenschaftlern verbunden, unterstreicht in diesem Zusammenhang die Rolle des Dichters, der der Gesellschaft „die Unruhe eines tieferen kollektiven Bewusstseins“ vermitteln vermag, aber auch für Verzauberung sorgen möge. Mit Worten und Bildern solle der Dichter eine „Durchsichtigkeit“ der Welt gewähren, wobei er die weiterhin kämpferische Rolle der Literatur, jedoch mit Wirkung in den Herzen, unterstreicht. Volker Demuth dagegen betont seinerseits, dass das Gedicht für ihn „keinem Zweck, keine[r] Absicht“ unterliegt.

Spannend zu erfahren ist, wie unterschiedliche Lebensläufe in Ost und West die Auffassung beeinflussen, was Literatur soll und kann. Das unmittelbare Erleben des Umbruchs von 1989 und die damit verbundene Erfahrung zweier gesellschaftlicher Systeme sind in diesem Zusammenhang besonders prägend. Nach dem Zusammenbruch von gesellschaftlichen Utopien scheint sich für den Siebenbürger Dieter Schlesak Entwicklung nach innen zu verlagern, wo das Schöpferische zum letzten Rückzugsgebiet wird. Dabei schreibt er der Literatur trotz der Missachtung von Seiten der Gesellschaft eine große Verantwortung zu. Für ihn wie auch für Magda Cârneci, Vertreterin der sogenannten „Achtziger Generation“, einer Kohorte damals junger rumänischer Autoren, die in den 1980er-Jahren debütierten, stellt das Transzendente ein wichtiges Moment im Denken und Schaffen dar. Cârneci hebt hervor, dass durch den Kampf ums physische Überleben wie auch durch das – das byzantinische Erbe bewahrende – orthodoxe Christentum das psychisch-spirituelle Moment im Menschen mehr Aufmerksamkeit erhalte, und die Literatur durch ihre Konzentration auf das Subjektive so der Beschleunigung des Lebens entgegengesetzt werde.

Thematisiert wird in den Gesprächen ebenso das literarische Leben der Gegenwart, das die materiellen Bedingungen von Literaturproduktion und die Schwierigkeiten des Verlegens und Verbreitens von Literatur betrifft. Kurt Drawert sinniert über den – allerdings nicht neuen Umstand –, dass Gedichte zwar Mehrwert schaffen, aber kein Geld bringen („Gedichte lesen macht reich, und Gedichte schreiben führt in den Notstand.“) und Volker Demuth beklagt das Dilemma, nicht gleichzeitig Dichter und Hochschullehrer sein zu können.

Mitunter stoßen die Fragen von Draghincescu auf Indignation bei den Interviewpartnern – dann kann es passieren, dass gerade diese zu ausholenden Überlegungen anregt.

Nicht alle Gespräche sind gleich gut gelungen, manche packen den Leser, regen ihn an, mehr über den jeweiligen Autor in Erfahrung zu bringen, seine Literatur zu lesen, andere ermüden durch eine schwerfällige und verklausulierte Metasprache. Doch auf jeden Fall zeigen die Texte, dass diese Künstler den Elfenbeinturm der Kunst für immer verlassen haben.

Titelbild

Rodica Draghincescu: Schreiben leben.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Rüdiger Fischer und Silke Pfluger.
Pop Verlag, Ludwigsburg 2006.
320 Seiten, 23,60 EUR.
ISBN-10: 3937139036
ISBN-13: 9783937139036

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch