Möglichkeiten, das Leben zu lieben

„Wie wir verschwinden“ von Mirko Bonné ist der leise, aber intensive, unzeitgemäße Roman einer Freund- und Feindschaft im Gestern und Heute

Von Heike GeilenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Geilen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

„Wie wir verschwinden“ – der Titel des vierten Romans des Hamburger Schriftstellers Mirko Bonné ist vielschichtig. Der Autor lässt mehr oder weniger alle im Buch agierenden Personen auf unterschiedlichste Art und Weise davonlaufen oder sich fortstehlen. Er erzählt von Gefühlen und Empfindungen, die abhanden gekommen beziehungsweise nicht mehr vorhanden sind. Zudem fungiert hier der Tod, das Sterben, als alles verbindendes Element.

Dies klingt ziemlich düster, schwarz und destruktiv. Aber nicht so Bonnés Erzählung, die eine durch und durch optimistische Grundstruktur aufweist. Der Autor selbst bemerkt: „Es geht auch darum, einem älteren Menschen wieder Spaß am Leben haben zu lassen. Es geht im Grunde darum, ihn dazu zu bringen, die Geschichte seiner Kränkungen, Verletzungen und all diesen Dingen, die ihm das Leben vermiest haben, zu überwinden.“

Gekränkt und verletzt ist der Ich-Erzähler Raymond Mercey, ein frühpensionierter 63-jähriger Witwer, der sich von einer Herzerkrankung erholt. Nach einem längeren Klinikaufenthalt erwartet ihn zu Hause ein Brief seines ehemals besten Freundes Maurice Ravoux. Der mittlerweile im letzten Stadium einer unheilbaren Lateralsklerose erkrankte Schriftsteller bittet ihn darin nach „46 Herbste[n], 46 Winter[n] und eine[m] Jahrhundertsommer“ um Verzeihung. Doch Raymond, seit dem Tod seiner Frau Veronique apathisch und depressiv, kann nicht vergeben. „Wen kümmert schon wirklich die Seelenpein eines anderen. Eine Fehlfunktion von Gehirn und Neurotransmittern. Wen kümmerte die meine? Einen, so schien es, der im Sterben lag, den ich seit 38 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aber hatte mich deshalb auch gleich seine Seelenfehlfunktion zu kümmern?“

Hervorgerufen wurde die Verletzung durch einen Verrat. „Wir hatten jahrelang einen gemeinsamen Traum gehabt, aber diese Jahre, vier oder fünf, waren mittlerweile zehnmal solange Vergangenheit. Der Traum war verschwunden, so verschwunden, wie wir mit unserer Maschine hatten verschwinden wollen.“ Gemeinsam hatten Maurice und Raymond die „große Maschine des Verschwindens“ gebaut – eine Draisine –, auf der sie aus ihrem engen Dorf Villeblin, südöstlich von Paris, fliehen wollten. Doch Maurice verrät das Geheimnis ausgerechnet der Jugendliebe von Raymond, um sich dann mit jener ganz aus dem Staub zu machen. Für Raymond geht an diesem verhängnisvollen Tag, dem 4. Januar 1960, seine Kindheit abrupt zu Ende.

Als verhängnisvoll erweist sich auch der schwere Verkehrsunfall, just in dem Moment, als die zwei Halbwüchsigen Villeblin den Rücken kehren wollen. Einer der beiden Unfalltoten ist ihr Idol, der Schriftsteller und Philosoph Albert Camus, dessen Freund- und Feindschaft zu Jean-Paul Sartre Analogien zu Maurice und Raymond birgt. Camus’ Geist und sein berühmtes Werk „Der Mythos des Sisyphos“ stehen über der Handlung des gesamten Buches. Maurice beginnt über diesen Vorfall einen Roman zu schreiben, dessen Entwurf er Raymond in seinem ersten Brief beilegt. In der darauffolgenden einseitigen Korrespondenz nimmt dieser mehr und mehr Gestalt an und fungiert sozusagen als zweite stoffliche Ebene.

Mirko Bonnés in Frankreich angesiedelte Erzählung, deren gelassen erzählerischer Ton ebenfalls durch und durch französisch ist, beginnt ganz leise und unspektakulär. Anfangs umkreist der Plot den Leser wie ein trudelnder Schmetterling. Seine Wesenheit ist zunächst schwer fassbar, der Hintergrund diffus und die Zeit scheint nahezu gedehnt. Es fehlt etwas klar Greifbares, Substantielles. Doch mit fortschreitendem Geschehen verdichtet sich der Stoff und nimmt Gestalt an. Licht und Schatten gewinnen Konturen. Zunehmend kommt die „Maschine des Verschwindens“, die so lange auf dem toten Gleis stand, in Fahrt. Und Schritt für Schritt, mehr leise als laut, erhält auch Raymonds Leben wieder Struktur und Helligkeit.

„Wie wir verschwinden“, ein Buch von der Liebe und der Eifersucht, von Tod und Verlust, setzt sich vor allem ganz nach Albert Camus mit der Frage auseinander, wie man die Liebe zum Leben bewahren kann und kommt letztlich zum Schluss: Nicht der Verlust des Lebens, sondern der Lebendigkeit ist das Schlimmste was einem passieren kann.

Titelbild

Mirko Bonné: Wie wir verschwinden. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
337 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783895614033

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