Die Verheißung weißer Blätter

Über Martin von Arndts leisen und zugleich bildgewaltigen zweiten Roman „Der Tod ist ein Postmann mit Hut“

Von Anja KümmelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Kümmel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Bereits der erste, titelgebende Satz bestimmt das Grundthema des Romans: die Beschäftigung mit existenziellen Fragen, mit Zeit, mit Endlichkeit. Die folgenden Kapitel bieten mal nachdenkliche, mal leichtfüßige Variationen dieses Leitmotivs. Mitunter erinnern die Dramaturgie und der Einsatz von Sprache tatsächlich an eine musikalische Komposition – mit Tonartwechseln, Kontrapunkten und einer klar erkennbaren Entwicklung.

Zunächst vermag der weltüberdrüssige Anti-Held Julio C. Rampf im Erscheinen des Postmanns, der ihm seit seinem vierzigsten Geburtstag an jedem ersten Mittwoch im Monat ein anonymes Einschreiben bringt, nichts anderes zu sehen als „eine Erinnerung daran […], dass ich dem Tod wieder 30 oder 31 Tage näher gekommen war, und noch immer aufstand, mich wieder zu Bett legte, wieder aufstand, bevor ich den Tag sah.“

Ein leeres Einschreiben zum Vierzigsten – man ahnt die ersten Anzeichen einer midlife crisis. Zumal adressiert an einen Protagonisten, dem sein eigenes Leben leer und sinnlos erscheint, als eine fatalistische Kette von Abschieden und Verlusten, denen er hilflos gegenübersteht.

366 Tage ist es her, seit ihm seine Frau die Scheidungsurkunden auf den Tisch gelegt hat. Nach seinem Gitarrenstudium war er ihr nach Innsbruck gefolgt, um in ihrer Nähe zu sein, obwohl er der Stadt nie etwas abgewinnen konnte. Heute fühlt er sich mehr denn je als Fremdkörper, nicht nur als Deutscher in Österreich, sondern auch in seinem Leben und in der Zeit.

Unweigerlich fällt in seiner Erinnerung die Trennung von Ines zusammen mit dem Tod seiner Mutter nur zwei Monate zuvor, und dieser wiederum mit dem Selbstmord seines Vaters, als er gerade 16 war. Die Mutter, erinnert er, schluckte seit dem Tod des Vaters Tabletten „gegen die Angst vor dem Versagen, dem Verzagen, dem Sterben, weil alle in dieser Familie so jung starben, sterben, stürben.“ Ängste, die auch Julio nicht fremd sind. Nur, dass seine „Selbstmedikation gegen den Tod“ die Gestalt von Alkohol, Lethargie und genereller Lebensverweigerung annimmt. Gern verschläft der erfolg- und ehrgeizlose Musiker den halben Tag. Sein Geld verdient er damit, aus Rock-Klassikern Versionen für Schnellimbiss-Beschallung herzustellen.

Erst mit den leeren Bögen und der Frage, wer sie ihm geschickt haben könnte, gerät sein bis dato ereignisarmes Dasein in Bewegung. Nach dem dritten Schnaps kommen ihm Ideen – Konkurrenten um Ines? Neidische Kollegen? Oder gar Paul McCartney, der ihm „die süß-sauere Version von Eleanor Rigby“ genauso wenig verzeihen konnte wie er sich selbst? Julio legt eine Liste mit Verdächtigen an, doch zunächst führen alle Spuren ins Leere.

Um das „Whodunnit“ geht es in diesem Buch natürlich nicht. Wie schon der Klappentext verrät, handelt es sich vielmehr um einen „Seelenkrimi“. Denn Julio ist kein x-beliebiger Loser, der Tag für Tag im ewiggleichen Sumpf watet, sondern bei allem Elend ein höchst reflektierter Charakter und scharfer Beobachter. Diese Fähigkeiten lassen auf eine Entwicklung hoffen – und diese Möglichkeit einer Entwicklung macht die Figur spannend.

Auch ist sein Leben mehr als ein „Versagen“ – wie es sich in den Augen seiner Mutter und seiner Exfrau darstellt –, es ist zugleich ein stiller Boykott gegen normative bürgerliche Existenzen „in Lohn und Brot, mit Frau, Kind, Offroader und einer Steuererklärung“.

„Rucola und Ameisen“ versinnbildlichen Julios Existenz – nicht umsonst betitelt dieses zunächst kryptische Zitat aus dem wiederkehrenden Lamento seiner Mutter das Kapitel über sein Herausfallen aus der bürgerlichen Gesellschaft. „Rucola und Ameisen“, klagt sie, solle Julio ruhig die Welt überlassen, denn „Kinder seien heute wohl einfach nicht mehr in Mode“. Ein persönlicher Affront nicht nur gegen die verhinderte Großmutter, sondern auch gegen die Gesamtgesellschaft.

Allerdings entspringt Julios Verweigerungshaltung weniger einem revolutionären Geist als vielmehr aus der Ablehnung und dem Schweigen, auf die er immer wieder stößt: „Der offizielle Weg war eine Sackgasse“. Vom Naheliegenden, „Normalen“ erhofft sich Julio keine Hilfe mehr. Die vertrauliche Empfehlung, sich an Koloman Steinbichler zu wenden, einem pensionierten Ermittler und „Spezialist für ,ungewöhnliche Fälle‘“, erscheint da wie ein Wink des Schicksals. Obwohl auch Koloman ihm zunächst nicht weiterhelfen kann, kommen sie sich über die Recherche näher. Eine Freundschaft entsteht, die das Leben beider verändert. Fast ist man versucht, von einer „Seelenverwandtschaft“ zu sprechen. Koloman wird der einzige, von dem Julio Rat und Kritik anzunehmen bereit ist, denn trotz aller Verschiedenheit spürt er die Parallelen in ihrer Lebenserfahrung. „Das mit dir und dem Leben, das wird nichts mehr“ – mit diesen Worten wurde der ehemalige Kriminalist von seiner Frau verlassen. Ähnliches hätte auch Ines zu Julio sagen können.

Trotz seines Rufs als „Grantler“ erweist sich Koloman als feinsinniger, belesener Charakter mit einer beinahe unheimlichen Menschenkenntnis. „Wie lange willst du eigentlich noch dein ,Als-Ob-nicht‘ leben?“ fragt er Julio leise, wie nebenbei. „Wenn dann was ins Rollen kommt, gerätst eh in Panik und möchtest am liebsten wieder so weiterhudeln wie bisher.“ Darüber solle Julio mal nachdenken. Und das tut er.

Wie tief Koloman in Julios Seele zu blicken vermag, zeigt ein Protokoll, das er ihm kommentarlos in die Hand drückt. Es handelt sich um die Aufzeichnungen seines einzigen ungelösten Falls, der den Ex-Ermittler nie ganz losgelassen hat.

Julio beginnt zu lesen. Erzähler des Protokolls ist Gregor B., der ungewollte Hauptdarsteller eines skurrilen kleinen „Film Noir“, inklusive femme fatale mit fragwürdiger Identität, einer namenlosen Bedrohung und einem Verbrechen, dessen Motive nie aufgeklärt werden konnten. Die Traumlogik der Handlung, bis zur Unkenntlichkeit verstrickt am Rande von Schlaf, Vergiftung und Auslöschung, entwickelt einen eigentümlichen Sog, hinein in eine verstörend-rätselhafte Welt. Mit Julio wird der Leser zum Voyeur wider Willen, schwankend zwischen Grauen und Faszination, wie der naive Held in David Lynchs „Blue Velvet“, der aus der Dunkelheit eines Wandschranks heraus seine Unschuld verliert. Letztlich bleibt offen, was das Protokoll mit Julios Geschichte zu tun hat, bis auf Kolomans kryptischen Hinweis, es täte ihm „vielleicht mal ganz gut“, „Einblick zu nehmen in die Tragik eines fremden Lebens“.

„Das Wasser steigt,“ ist ein weiterer rätselhafter Satz des pensionierten Kriminalisten. Bis Julio ihn entschlüsselt hat, ist es bereits zu spät; das Wasser ist Koloman buchstäblich bis zum Herzen gestiegen, und Julio ist wieder allein. Was ihm bleibt, ist der Cockerspaniel „Tadzio“ – eine subtile Anspielung auf den ewigen Platzkampf zwischen Lebens- und Todestrieb, wie ihn Thomas Mann in seiner Novelle „Tod in Venedig“ dargestellt hat.

Jedoch ist dieser Abschied anders als die vorigen. Inzwischen hat Julio erkannt, dass es seine oft verfluchte Fähigkeit zur Reflektion und zur Kontemplation ist, die ihn sein Leben, wenn schon nicht „neu anpacken“, dann doch zumindest verändert wahrnehmen lässt.

Er beginnt sein „Nächtebuch“ auf den leeren Bögen und Umschlägen zu führen, „um das Weiß, dieses herausfordernde Weiß, endlich mit Buchstaben, mit Zeilen, mit Leben zu füllen.“ Durch seine Gabe zur genauen Beobachtung, zur Beschreibung der eigenen Seelenzustände, gelingt es ihm, seine Angst vor dem weißen Blatt – die Angst des schreibenden Menschen schlechthin – allmählich abzustreifen. Damit hat von Arndt letztendlich eine wunderbare Allegorie auf die Funktion des Schreibens entworfen, die, wie Julio es ausdrückt, darin besteht, „die Zeit urbar zu machen“.

Titelbild

Martin von Arndt: Der Tod ist ein Postmann mit Hut. Roman.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2009.
205 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783940086372

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