„Ein Licht, das darauf wartet, zum Feuer zu werden“

Georges Canguilhems Studie über Reflexphysiologie als wissenschaftsgeschichtliche tour de force und philosophischer coup d’état

Von Thomas EbkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Ebke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Georges Canguilhem (1904-1995) wirkt gegenwärtig, bei aller Anstrengung um Transfers zwischen deutscher und französischer Philosophie, noch immer wie ein Enigma in der deutschen Diskussionslandschaft. Die philosophische Promotionsschrift des Mannes, der 1955 die Nachfolge von Gaston Bachelard auf dem Lehrstuhl für Philosophie und Geschichte der Wissenschaften an der Sorbonne antrat und der nicht ganz zu Unrecht in dem Ruf steht, einer der frühesten Förderer Michel Foucaults gewesen zu sein, liegt nun in deutscher Übersetzung vor.

Nicht nur vom Titel her, sondern auch im Schreibgestus ebenso nüchtern wie exotisch, legt es „Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert“, ursprünglich 1955 erschienen, gleichwohl auf einen bemerkenswerten coup, einen philosophischen Handstreich an. Der König, der hier vom Thron gestoßen werden soll, ist kein Geringerer als René Descartes, und die Maßnahmen, die den Umsturz bringen sollen, entspringen der eigentümlichen Vorgehensweise der histoire des sciences, die Canguilhem in diesem Buch zur Perfektion führt.

Wie lautet die exakte Problemstellung des Reflexbuchs und welchen Aufbau hat Canguilhems Argumentation? Zum einen ist Canguilhems Text auf den Nachweis zentriert, dass es gerade nicht die mechanistisch fundierte Physiologie und Biologie von Descartes war, die den Begriff des Reflexes auf den Weg brachte. Das cartesianische Modell sei sogar, ganz im Gegenteil, außer Stande gewesen, den Reflexbegriff zu konzeptualisieren. Zum anderen vertritt Canguilhem folgende systematische These: Als Begründer des Reflexkonzepts habe der englische Naturphilosoph, Anatom und Physiologe Thomas Willis (1621-1675) zu gelten. Bei Willis indes ist dem Terminus der reflexio beziehungsweise des motus reflexus zur Kennzeichnung des Phänomens der unwillkürlichen Muskelkontraktion – und dies ist Canguilhems Pointe – eine spekulative Gleichsetzung zwischen der Muskelbewegung und den optischen Gesetzen der Rückstrahlung (reflexio) eingeschrieben. So gesehen, formierte sich der Begriff des Reflexes dank einer Hypothese, die vom Standpunkt der mechanistischen Naturwissenschaft als abenteuerlich erscheinen musste und die in der Tat der experimentellen Legitimation entbehrte. Seine originäre Bedeutung empfing der Reflexbegriff in einer vitalistischen Konstellation, die, so Canguilhem, nach und nach durch mechanistische Theoreme überlagert wurde und letztlich der Vergessenheit anheim fiel. Wissenschaftshistorisch setzte sich das irrtümliche Bild durch, Descartes habe als Erster, und zwar auf der Grundlage einer mechanistischen Biologie, das Konzept des Reflexes definiert.

Aber warum war es Descartes unmöglich, den Vorgang der unwillkürlichen Muskelbewegung auf den Terminus des Reflexes zu bringen? Zunächst rekonstruiert Canguilhem an Hand des „Traité de l’homme“ (1632) das mechanistische Prinzip der cartesianischen Biologie: Im Unterschied zu William Harvey bestimme Descartes das Herz nicht als Muskel, sondern als ein „Organ ohne anatomische und physiologische Entsprechung im übrigen Körper“. Allein durch eine Bewegung der Ausweitung (Diastole), nicht aber der Zusammenziehung (Systole), generiere das Herz eine elementare Wärme, die es in das Gehirn leite und so den Blutkreislauf in Gang bringe. Dieser wiederum bestehe in der Zufuhr feinster Partikel, der sogenannten spiritus animales (Lebensgeister), über die Nerven an die Muskulatur des Organismus.

Nach Canguilhems Darstellung ist es der entscheidende Punkt der cartesianischen Physiologie, „die zentripetale sensorische Erregung“ eines Nervs seiner „zentrifugalen motorischen Reaktion“ unterzuordnen. Sensorische Funktionen werden bei Descartes nicht von externen Reizen her expliziert, die über die Nervenbahnen von der Peripherie des Organismus auf das neuronale Zentrum einwirken und dort eine Reaktion stimulieren. Vielmehr ermöglichen die ausschließlich zentrifugal zu den Muskeln strömenden spiritus animales eine „Vervollkommnung der Funktion der Sensibilität“ gerade durch „ihre wesentlich motorische Funktion“, also kraft der von ihnen bewirkten Kontraktion der Nerven und Muskeln. Für Descartes ist, wie Canguilhem herausstellt, die Bewegung der spiritus animales „vom Gehirn zum Muskel eine Bewegung ohne Zurück“. Es ist die Herzaktivität, welche die Blutzirkulation als einen kausalen Prozess in einseitiger Richtung initiiert und strikt mechanische Abhängigkeiten der muskulären von der neuronalen, der neuronalen von der zerebralen Prozessphase festlegt. Funktioniert das mechanistische System Descartes’ jedoch in der beschriebenen Weise, so hat es seiner gesamten Anlage nach für das Konzept des Reflexes keinerlei Platz.

Dies also ist Canguilhems entscheidender Schlag gegen das Vorurteil, Descartes habe den Reflexbegriff definiert und terminologisch eingeführt: Das rekursive Modell der Bewegung, das heißt die Vorstellung einer vom Zentrum an die Peripherie zurückgewendeten Erregung, steht quer zur mechanistischen Intention Descartes’, im rein zentrifugalen Verlauf der Durchblutung die durchgehende kausale Determinierung durch einen Zentralmechanismus anzuzeigen. Die Geburt des Reflexkonzepts war mithin, so argumentiert Canguilhem, Ausdruck einer „Interpretation von Erfahrung“, die von der cartesianischen Sicht der Phänomene divergieren musste. An diesem Punkt rehabilitiert Canguilhem, wie schon angesprochen, Thomas Willis. Auf drei Differenzen zwischen den Physiologien von Willis und Descartes legt Canguilhem ausdrücklich Wert: Erstens sah Willis nicht das Herz, sondern das Hirn in der für die Muskelbewegung ursächlichen Funktion. Zweitens beschrieb Willis die spiritus animales nicht wie Descartes als die subtilsten Partikel im Blut; er erkannte ihnen vielmehr eine gegenüber dem Blutkreislauf selbständige Zirkulationsweise zu, und zwar sowohl in Richtung vom Hirn zur Peripherie als auch umgekehrt. Drittens und vor allem aber war Willis der Auffassung, der spiritus animales sei „ein Vermögen, das aktualisiert werden muß“.

Die Abweichung von der cartesianischen Konzeption findet sich in Willis’ dunkler These, die spiritus animales als „destilliertes, purifiziertes, sublimiertes, vergeistigtes Blut“ hätten vor ihrer physischen Aktualisierung einen Überschuss an Potentialität voraus. Canguilhem kann nun zeigen, von welcher archaischen, eigentümlich vorwissenschaftlichen Semantik das Konzept des Reflexes bei Thomas Willis seinen Lauf nahm. Der Reflex wird bei Willis buchstäblich als eine Explosion virtueller Energie gedacht – eine Entladung, die geschieht, sobald die spiritus animales mit nitro-sulphurischen Partikeln zusammentreffen, die im Blutgehalt eines Muskels enthalten sind. Und da die spiritus animales in doppelter Ausrichtung vom Zentrum (Hirn) zur Peripherie und rückwärts laufen, strahlt die Freisetzung des in ihnen aufgeladenen numinosen Lichts auf das Zentrum zurück, woraus folgt: „Somit ist der Spiritus animalis ein Licht, das darauf wartet, zum Feuer zu werden.“

Canguilhems primäres Vorhaben besteht also in dem Nachweis, dass ein Begriff nur dort entsteht, wo auf die problematischen, Fragen aufwerfenden Eigenschaften innerweltlicher Phänomene reagiert wird. Ein Begriff dient der Koordination und der Stabilisierung im Umgang mit Gegebenheiten, die erst noch begriffen werden müssen. Willis und Descartes hatten dieselben physischen Daten, nämlich Vorgänge der unwillkürlichen Bewegung von Organismen, vor Augen. Gleichwohl waren ihre Terminologien, mit denen sie die Phänomene in die Ordnung einer Wissenschaft brachten, inkommensurabel. Diese Ungleichartigkeit ihrer Begrifflichkeiten verweist, so Canguilhem, auf eine Differenz, die ihre vorwissenschaftlichen Haltungen zu oder prä-theoretischen Sichtweisen der Dinge scharf unterscheidet.

Stellt man sich also auf den Standpunkt einer kritischen, etwa Begriffe, Ausdrücke und Theorien auseinander haltenden Wissenschaftsgeschichte, wird man sehen, dass Begriffe eine Technik darstellen, um die immanenten Unbestimmtheiten des Lebens zu bewältigen. Dann aber wird man auch nicht den Gegensatz verkennen zwischen einer vitalistischen Formation des Wissens, die „ein Bewusstsein der Spezifität der organischen Phänomene“ und der „chronologisch uneinholbaren Antizipation des Lebens“ aufweist, und einer mechanistischen Formation, die als Prinzip einer rein mechanischen Natur das „nicht auslotbare Geheimnis“ anführen muss, „das den Menschen auf die Weisheit Gottes zurückverweist“.

Damit ist der philosophische coup umrissen, den Canguilhem in seinem Reflexbuch formuliert. Worin aber dieser große Einsatz Canguilhems besteht, das muss man letztlich eher zwischen den Zeilen erfassen, als dass man es klar ausgesprochen fände: Denn Canguilhems minutiöse historische und naturwissenschaftliche Exkurse verlangen in ihrer Zähigkeit dem Leser einiges ab. Als erster Zugang zu Canguilhems Denkansatz ist das Reflexbuch somit eher ungeeignet. Dieser Ansatz aber ist selbst ein „Licht, das darauf wartet, zum Feuer zu werden“.

Titelbild

Georges Canguilhem: Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert.
Übersetzt aus dem Französischen von Henning Schmidgen.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2008.
257 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783770545254

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