Nichts ist, was es scheint

Über Robert Menasses Erzählungen „Ich kann jeder sagen“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Im letzten Jahr tauchten – auch von bekannten und renommierten Autorinnen und Autoren – Erzählbände auf, die eine eigenartige, aber vor allem ungemeine große Qualität aufweisen. Judith Hermann ist dabei die geringste Überraschung. Ihre bisherigen drei Bücher sind allesamt Sammlungen von Erzählungen, die in „Alice“ zuletzt sogar in einen größeren, sie verbindenden Rahmen gestellt waren.

Daniel Kehlmanns „Ruhm“ hingegen demonstrierte, dass Kehlmann nicht nur ein geschickter und kundiger Autor ist, sondern eben auch literarisch ernst zu nehmen ist. „Ruhm“ ist mehr als nur eine Sammlung von Erzählungen, das ist nicht nur Unterhaltung, sondern einigermaßen grandios.

Und nun Robert Menasse. Schon der Titel signalisiert das Niveau, das Menasse avisiert und das Leser von ihm kennen: „Ich kann jeder sagen. Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung“. Und er hält es durchweg. Und das, obwohl die Stillage und der Erzählansatz der Texte völlig unterschiedlich sind.

Menasses Geschichten spielen im Umkreis der jüdischen Nachkriegsbevölkerung in Europa, ohne dass die Zäsur Holocaust eine andere denn eine Reminiszenz wäre, die präsent ist, aber an Bedeutung mehr und mehr verliert. Es sind Vater-Sohn-Geschichten, es sind Männer-Frauen-Geschichten, es sind Geschichten vom Verhältnis von Schein und Sein.

Darunter die Geschichte vom Beginnen, das immer wieder neu angesetzt werden muss, ohne dass es richtig begonnen werden kann, so schnell ist sie schon wieder zuende.

Da ist die Geschichte, die der Vater immer wieder erzählt: Vom Hungerwinter im Amsterdamer Zoo, den die Familie auf der Flucht vor den Nazis im Zugang zum Affenkäfig versteckt verbracht hat, und von dem einen Mal, als einer der Affen der Familie nicht nur das Essen, sondern auch ein Buch brachte. Daran schließt thematisch die Geschichte von der Hochzeit am 9. November an.

Oder die Geschichte von den blauen Bänden, ja, von den blauen Bänden, die der Antiquar seit Jahrzehnten im Angebot hält, seit der Zeit, in der er die Bände aus den Mülleimern der angsterfüllten Spontis gefischt hat, die alles aus ihren Bücherregalen werfen (auch den Bloch), was darauf schließen lassen könnte, dass sie etwas mit der Entführung eines Textilindustriellen zu tun haben könnten.

Nicht minder schön die Geschichte eines Hauses in der Giradigasse in der Nähe der Wienzeile, das als Bordell gebaut worden ist. (Menasse beginnt die Geschichte mit den Worten: „Ich arbeite in einem Bordell“ – ein sehr hübscher Anfang.)

Die Geschichte der Eltern, die sich trennen müssen, weil der Mann – ein Boxer – nach einem desaströsen Kampf seine Frau nicht mehr riechen kann, wo doch ein Parfum, Chanel No. 5, die Grundlage ihrer Beziehung ist (für den Sohn deshalb der Muttergeruch).

Auch die Geschichte von den deutsch-deutschen Briefmarken im Album des Erzählers ist bedenkenswert, nicht minder als die von dem renitenten Mann, der Steine auf Polizisten wirft, dann später selber Polizist wird, sich davon wieder – endlich – abwendet, um erleben zu müssen, wie der renitente Sohn genau dieselbe Karriere einschlägt, vielleicht sogar aus Widerborstigkeit gegen den Vater.

Die Diskussion auch zwischen dem Mann und seiner Frau, die eben von ihrer Scheinschwangerschaft erfahren hat, über die Ermordung John F. Kennedys.

Es sind im wahrsten Sinn verrückte Geschichten, konzentriert geschrieben und von ungemein hoher Dichte. Miniaturen einer Gesellschaft, in der die Söhne immer noch mit den Vätern hadern, mit ihren Frauen kämpfen und sich zugleich von dieser alten Welt mehr und mehr zu lösen versuchen. Die Verfolgung und das Überleben geraten zu Anekdotenlieferanten. An die Stelle des Skandalons Holocaust ist eine unbehauste Normalität gerückt, die sich nur mit Mühe damit abfinden kann, dass es um sie herum so etwas wie Ereignisse gibt.

So ziehen sich die Verweise auf die Großereignisse der vergangenen Jahrzehnte, die Kennedyermordung, die Studentenrevolte und ihre Nachzeit, der Fall der Mauer, aber auch die Fußball-Europameisterschaft Griechenlands durch die Geschichten.

Es sind diese Großereignisse, die den Ablauf der Zeit skandieren, auch wenn die Einzelnen daran nicht partizipieren, denn sie sind irgendwie immer nur randständige Teilnehmer, eben Fernsehzuschauer. Indem sie dennoch von dem, was sie im Zusammenhang mit diesen Ereignissen erlebt haben, erzählen, geraten sie immerhin in den Verdacht, so etwas wie echte Subjekte zu sein, wirklich da zu sein.

Auch wer das nie in Abrede hat stellen wollen, weil wir Medientiere sind, wird einräumen müssen, dass diese Arbeit der Ich-Konstruktion und -Vergewisserung, so wie sie Menasse vorführt, höchst amüsant ist. Ein bemerkenswertes Stück Literatur, das Kultstatus verdient.

Titelbild

Robert Menasse: Ich kann jeder sagen. Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
189 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421147

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