Das Leben der Begriffe

Jürgen Große klassifiziert die ‚Lebensphilosophien‘ im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Tod

Von Martin StingelinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Stingelin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Empfinden eine Paprika oder ein Apfel Schmerzen? Dann würde sich die Frage, ob etwas ‚lebt‘, noch schneidender und schreiender stellen, als sie sich im Hinblick auf ungeborenes oder sterbendes ‚Leben‘ ohnehin schon und, wie die Schärfe des Streits über Präimplantationsdiagnostik und Sterbehilfe bezeugt, mit zunehmender Dringlichkeit stellt. Das ‚Leben‘ überfordert die Philosophie. Seit Aristoteles in dieser Not versucht hat, den Begriff des Lebens durch eine Reihe von Unterscheidungen zu bändigen – allen voran die Unterscheidung zwischen dem rein vegetativen Leben, das sich auf Ernährung und Wachstum beschränkt, im Gegensatz zum Leben, das durch den logos beseelt wird und sich durch Empfindungs-, Wahrnehmungs- und bzw. oder Denkvermögen auszeichnet –, hat er nicht mehr aufgehört, Probleme aufzuwerfen. Der Begriff des Lebens ist so unrein wie der Begriff des Begriffs selbst, setzt Be‑Greifen doch augenscheinlich sensibles Leben voraus.

Die Begriffs- und Strukturgeschichte des Berliner Philosophiehistorikers Jürgen Große, der die philosophischen Strategien im Umgang mit dem ‚Leben‘ von der Romantik bis zu unserer Gegenwart untersucht hat, dokumentiert eindrücklich: Den Menschen zerreißt dort, wo er sich, indem er es untersuchen oder gar reflektieren will, auf sein ‚Leben‘ zurückgeworfen sieht, begrifflich eine widersprüchliche Unvermittelbarkeit, die über die sogenannte ‚transzendentale Doublette‘ von reflektierendem Subjekt und reflektiertem Objekt hinausweist und diese durchkreuzt. Von welchem ‚Leben‘ ist die Rede? Jenem Untersuchungsgegenstand, den die Naturwissenschaften der Philosophie, die sich den „life sciences“ gegenüber als ‚Lebensphilosophie‘ rechtfertigen muss, streitig machen? Oder jenem Gut, in dem zu sich zu kommen der Mensch sich unablässig strebend bemüht? Der ungeschlachten zoologischen Gegebenheit des bloßen materiellen Substrats (im Griechischen zoé) oder der kulturell geformten und überhöhten Biographie erlebter und erinnerter Ereignisse (im Griechischen bíos), deren Träger jenes ist? „Begriffsgeschichtlich ist diese Doppeldeutbarkeit aus der Differenzierung in Leben als Faktum und als Werthorizont, in (organisches) ‚Leben‘ und (soziokulturell bestimmte) ‚Lebensweise‘, in zoé und bíos notorisch“, so Große. Schon im Lateinischen allerdings verschmilzt unterschiedslos zu vita, was im Deutschen ‚Leben‘ heißt und als Begriff wohl gerade deshalb ebenso anstößig wie ‚lebendig‘ geblieben ist.

Durch zwei bemerkenswerte Feststellungen gelangt der Autor ausgehend von dieser Doppeldeutbarkeit zu einer Typologie und einer Untersuchungsstrategie: Hier wie dort, sei’s als Gegenstand, sei’s als Prinzip des Philosophierens, ist ‚Leben‘ ein Kampfbegriff, eine Parole, in deren Namen die naturwissenschaftlich unsachgemäße Moralisierung oder die logisch-abstrakt verengte Naturalisierung des Lebens zurückgewiesen wird. Die praktische philosophische Einstellung, aus dem Leben heraus um des Lebens willen zu philosophieren (I), und die theoretische Einstellung, Leben zum – begrifflich – reinen Untersuchungsgegenstand zu objektivieren (II), können sich ihrerseits also gegenseitig thematisieren und kritisieren: So befragt jene den theoretisch-wissenschaftlichen Zugriff auf das Leben nach seinen Sinnfundamenten, Geltungsgründen und ‚lebensweltlich‘-prärationalen Vorleistungen (III), während „heute das, worauf Lebensphilosophie (I) abzielte, nämlich eine – selbstbewusste und selbstbejahende, d. h. emphatisch-tautologisch als Selbsterfahrung sich äußernde – Lebensweise, zum Bearbeitungsgegenstand eines ‚biowissenschaftlich‘ gespeisten Rechts- und Ethikverständnisses (IV) geworden“ ist.

Die vermeintliche Randständigkeit der – stilistisch von Große sperrig sogenannten – ‚Lebensphilosophien (I–IV)‘ erweist sich symptomatologisch als zuverlässiger Indikator des philosophiehistorisch jeweils vorherrschenden Selbstverständnisses dieser mehr oder weniger vom ‚Leben‘ beseelten Disziplin. Ihre Typologie wird durch die zweite bemerkenswerte Feststellung näher bestimmt: Gegenbegriff zum ‚Leben‘ ist überraschend selten der Tod, sondern ein unechtes oder falsch verstandenes Leben. Was sich in Großes geduldigen, ebenso eindringlichen wie umsichtigen Lektüren einschlägiger Traktate und Abhandlungen abzeichnet, ist eine Stilkritik der sogenannten Lebensphilosophien im Lichte des Todes als ihrem jeweiligen blinden Fleck. In dieser Perspektive gewinnen sie ihre deutlichste und unverwechselbarste Kontur.

Wo ‚Lebensphilosophie (I)‘ – Große untersucht u. a. Friedrich Heinrich Jacobi, Johann Gottlieb Fichte, Karoline von Günderrode, Novalis und Friedrich Schlegel – ihren Begriff von ‚Leben‘ zwischen „Alleben und Vereinzelung“ ansiedelt, setzt sie es als Bewegung, Autonomie, Totalität und Unbegrenztheit des Sinns im Namen einer höheren Einheit jedem Versuch entgegen, ihm durch logische Abstraktion, Reflexion und Systematisierung Herr zu werden. Den Tod vermag sie in dieser Parteinahme für das Leben allerdings nur als das Tote, im Gegensatz zum ‚lebendigen‘ Leben zu denken. Die Quelle seiner Lebendigkeit ist begrifflich die Intensivierung durch den Pleonasmus und die Tautologie, die das Heilsverprechen ewigen Lebens unterstreichen. Dagegen engt ‚Lebensphilosophie (II)‘ – Große untersucht u. a. Arthur Schopenhauer, Eduard von Hartmann und Philipp Mainländer – den Begriff des Lebens bewusst auf Organisches ein, um es, und sei es im heroischen Akt des Selbstversuchs, nach dem Vorbild der Naturwissenschaften empirisch untersuchen und vergegenständlichen zu können. Der Tod kann hier allerdings nur als Krankheit und Sterben in Erscheinung treten, was gleichzeitig das Heilungsversprechen ihrer medizinischen Kalkulierbarkeit unterstreicht. Wo ‚Lebensphilosophie (III)‘ – allen voran Günther Anders und Ivan Illich (die hier in gelegentlich überraschenden Allianzen auf zivilisationskritische Argumentationsmuster etwa von Ludwig Klages oder Oswald Spengler zurückgreifen) – im Namen einer Unverfügbarkeit des Lebens diese Entfremdung durch den medizinisch-industriellen Komplex kritisiert, setzt ‚Lebensphilosophie (IV)‘, wie sie die aktuellen ‚Biowissenschaften‘ legitimiert, die biopolitische Regulierbarkeit des Lebens gerade voraus.

Der die Lektüre lohnende Anregungsreichtum dieses Buches, der hier nur angedeutet werden kann, kommt unter anderem darin zum Ausdruck, wie genau sich da und dort bestimmen lässt, was fehlt, etwa eine Erörterung der für die Begegnung von Wissenschaft und Geschichte am Ende des 18. Jahrhunderts außerordentlich bedeutsamen, den blutigen Kampf der Französischen Revolution für die Menschenrechte begleitenden Debatte zwischen Georg Christoph Lichtenberg, Samuel Thomas Sömmering und anderen, ob der Organismus im allgemeinen, das Gehirn im besonderen nach der Guillotinierung ‚weiterlebt‘ und wie lange. Hier zieht Große eine deutlichere Grenze zur Wissenschaftsgeschichte, die er nur als Fluchtpunkt der „life sciences“ nachzeichnet, als zur Politikgeschichte, die gelegentlich im dunklen Horizont der Frage aufblitzt, wie der Begriff des Lebens gefasst werden muss, um in seinem Namen Opfer für das Vaterland, die Menschenrechte, die Arbeiterklasse, einen gesunden Bevölkerungskörper oder gar das ‚Leben‘ selbst in einem ‚höheren‘ Wortsinn verlangen und legitimieren zu können.

Das Buch ist zudem durch eine gewisse Scheu gekennzeichnet, im Umgang mit dem Begriff ‚Leben‘ gleichzeitig dem (Eigen‑)Leben von Begriffen zu vertrauen, wie dies etwa die epistemologischen Reflexionen des französischen Philosophen und Wissenschaftshistorikers Georges Canguilhem im Anschluss an die Sprachkritik Friedrich Nietzsches auszeichnet, der im Verhältnis zur Wirkungsmächtigkeit, die, vermittelt durch Canguilhem, sein Vitalismus gerade in Frankreich entfaltet hat – die letzten zu Lebzeiten publizierten oder autorisierten Texte von Michel Foucault („Das Leben: die Erfahrung und die Wissenschaft“, 1984/85), Gilles Deleuze („Die Immanenz: ein Leben…“, 1995) und Jacques Derrida („Leben ist Überleben“, 2004) nehmen sich jeweils wie testamentarische Verfügungen aus, die die Frage nach dem ‚Leben‘ als Unabgegoltenes aufgeben –, in Großes Darstellung merkwürdig unterbelichtet bleibt, zumal das Buch kaum einen Blick über die Grenzen der deutschen Sprache hinaus wirft. Vom Ereignis, das Nietzsches Denken als Schlachtfeld darstellt, auf dem die historische Kritik, die Sprachkritik und die physiologische Kritik der biologischen Bedingtheit jeglicher Erkenntnis miteinander durch ihr gegenseitiges In-Frage-Stellen um die Vorherrschaft über das Leben ringen, bleibt in Großes Darstellung als Spur gerade einmal der Perspektivismus, wie er im Schlüsselzitat aus der „Götzendämmerung“ zum Ausdruck kommt, „daß der Wert des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter, von einem Toten nicht, aus einem anderen Grunde“.

In der Reflexion des Begriffs ‚Leben‘ die Lebendigkeit von Begriffen am Werk zu sehen, die sich dieser Reflexion bis zu einem gewissen Grad entzieht, würde Große wohl als Typus ‚Lebensphilosophie (I)‘ oder ‚Lebensphilosophie (III)‘ klassifizieren. Hier droht das Pulsierende der Philosophiegeschichte, in der sich unablässig Probleme aufwerfen, zum Prüfungsstoff für Staatsexamen zu gerinnen (wo die Bolognareform in der Kleinteiligkeit ihrer Modularisierung der Universitätsphilosophie die lebendige Neugier an solchen Fragen nicht schon gänzlich ausgetrieben hat). Doch das vergleichsweise starre typologische Raster schnürt hier der Herausforderung den Atem ab, die etwa der letzte Text von Gilles Deleuze, „Die Immanenz: ein Leben…“, darstellt, der den Grund des Lebens allein aus diesem selbst heraus zu entwickeln versucht, und deshalb jedes Leben als singuläres Ereignis begreifen muss. Mit anderen Worten: Es gibt kein Leben, sondern immer nur ein Leben.

Nicht zuletzt darin liegt die anhaltende Aktualität der Frage nach dem ‚Leben‘, die Jürgen Große mit beharrlicher Geduld aus der Philosophiegeschichte hervorgetrieben hat.

Titelbild

Jürgen Große: Der Tod im Leben. Philosophische Deutungen von der Romantik bis zu den "life sciences".
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2008.
264 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783787318834

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