Standardwerke für heutige und zukünftige Proustleser

Die „Marcel Proust Enzyklopädie“ und Michael Maars „Proust Pharao“ zählen zum Besten, was derzeit zu haben ist

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Jubiläum oder sonstiger Gedenktag – und trotzdem sind auch in diesem Jahr wieder einige gewichtige Bücher über den wohl größten Autor des 20. Jahrhunderts erschienen. Beginnen wir mit einer kleinen Kritik. Michael Maar, ausgewiesener Experte für Proust, Nabokov und Thomas Mann, hat einen „neuen“ Essayband über Proust vorgelegt. Leider hat sich der Verlag Jean Pauls Meinung anscheinend angeschlossen, dass man den Deutschen alles vorsetzen könne, „sie haben alles vergessen und halten alles für neu.“ Denn bis auf zwei Essays sind alle in der publizierten Form oder in einer ersten Fassung bereits veröffentlicht worden und auch von den zwei Erstveröffentlichungen in diesem Band ist eine bereits in Teilen in dem Band „Die falsche Madeleine“ 1999 erschienen. Diese Praktik ist doch ärgerlich für den Proustleser, der hier Neues erwartete. Dagegen ist die Enzyklopädie tatsächlich eine Erstveröffentlichung in deutscher Sprache und erschien 2004 als Originalausgabe unter dem Titel „Dictionnaire Marcel Proust“ in Frankreich. Herausgegeben, übersetzt und überarbeitet von einem weiteren Fachmann auf dem Gebiet, Luzius Keller, der auch die neue Frankfurter Proust-Ausgabe besorgt und betreut hat. Diese Fachkenntnis kommt diesem Buch zugute, das für lange Zeit das Standardwerk zu Proust und seinem Romanwerk sein dürfte und damit unentbehrlich für jeden Proustleser, der etwas tiefer in die Welt der Guermantes, Swanns und Albertines tauchen möchte. Sieht man von der bereits monierten Verwertungspraxis einmal ab, stehen beide Bücher exemplarisch für die Möglichkeiten, noch tiefere Kenntnisse und damit auch mehr Lesefreuden mit seinem Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu gewinnen. Denn wie Maar an anderer Stelle einmal schrieb: „Die großen Werke sind nie endgültig verkorkt, sie geben immer wieder Entdeckungen frei.“ Während die Enzyklopädie den Leser im Detail über die im Werk auftauchenden oder auf sie verweisenden Personen, Orte und Geschehnisse informiert, deckt Maar mit einem fast detektivischen Spürsinn Geheimnisse von Personen, Orten und Geschehnissen im Roman auf beziehungsweise zeigt Parallelen zu anderen Werken großer Schriftsteller wie zum Beispiel Thomas Mann. Er weist akribisch Beziehungen und übereinstimmende Grundmotive zu Manns Zauberberg oder zum Josephsroman nach. Dies macht die Essays spannend und seine anspielungsreiche, humorvolle Sprache und seine spürbare Lust an überraschenden Formulierungen lassen die Lektüre zu einem wahren Genuss werden. Zumal Maar seine Gedanken und Einsichten auch gelegentlich spekulativ vor dem Leser ausbreitet und damit exemplarisch die untergründige Tiefe und Komplexität des Werkes und der Person Prousts ausleuchtet. Ganz im Sinne auch von Thomas Mann, der in einem Brief an Julius Bab bemerkte: „Was aber mitgewußt und mitgedacht ist, spricht auch mit. Es fließt Ihnen in die Hand und tut seine Wirkung, ist nicht da und irgendwie doch da, und gibt Anschaulichkeit.“

Ganz anders dagegen, aber nicht minder anregend sind die sachlich informierenden und meist ohne wertenden Kommentar verfassten Lexikonartikel des Handbuches. Von dem ersten Stichwort „Adel I“ bis zu „Zum Dinner geladene Gäste“ ist es immer auf der Höhe der aktuellen Forschungsliteratur, weshalb manche Artikel auch noch ein oder zwei Nachträge bekommen haben. Dem Leser werden alle zugänglichen Primärtexte Prousts und die Ergebnisse aller wichtigen Sekundärtexte, Interpretationen und Monographien auch in ihrer Differenz hinsichtlich des gerade zur Rede stehenden Artikels transparent gemacht, wobei auf die entsprechende Quelle verwiesen wird. In über 1.000 Stichwörtern werden die einzelnen Werke Prousts bezüglich des Inhalts, der Entstehung und Veröffentlichungsgeschichte ausführlich dargestellt. Ferner werden die handelnden Personen, die wichtigen Orte sowie die zugrunde liegenden jeweiligen Vorbilder beziehungsweise deren Verwandlungen im Roman erklärt und ausführlich beschrieben. Darüber hinaus auch die wichtigen Stichwörter oder Gegenstände zu den anderen Werken Prousts. So gibt die Enzyklopädie grundlegend, oft über mehrere Spalten, Auskünfte über die „Madeleine“, über die „Weißdornbüsche“ oder die „Geigensonate von Vinteuil“. Dabei rekurriert man sowohl auf Selbstauskünfte, innertextuelle Verweise als auch auf gesicherte Interpretationen. Kennzeichnend ist die zurückhaltende Wertung, insbesondere bei umstrittenen Deutungen. So, wenn es darum geht, ob und welche männliche Projektion aus Prousts Leben hinter Albertine verborgen ist. In diesem Falle kann Michael Maar natürlich seine Indizien bis hin zu einer Beweiskette vor dem Leser ausbreiten. Auch wenn diese Beweise zuweilen nicht immer sicher auf ihren Beinen stehen, ist es für den Leser immer ein Genuss, seinen glänzenden sprachlichen Ausführungen zu folgen, so dass es dem Lesevergnügen keinen Abbruch tut, ob denn die Vermutungen stimmen oder nicht. Aber wenn man die Ausführungen Maars zu der Zofe der Madame Putbus liest, erscheinen einem der ganze Anspielungsreichtum und die doppeldeutigen Textbausteine in Prousts Roman evident. Eines wird nach der Lektüre Maars deutlich: Die Personen im Roman sind nicht das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen, sondern sie „verbergen verschiedene Ichs in sich. Es gibt kein royales Ich.“ Diese Doppeldeutigkeit gilt nicht nur für den Roman, sondern auch bezüglich der Anweisungen und Berichte Prousts in Briefen an Freunde und Bekannte. So wird man dann fast selbst noch zum Detektiv, um Michael Maars Wette zum Schluss einzulösen, wenn er seine neue Version zur Identität der realen Person hinter der Albertines aus dem Roman anhand vieler Indizien exemplifiziert. „Der blonde Lustengel der Madame Putbus hatte Schnittwunden im Gesicht, die er sich vom Apotheker in Combray versorgen ließ. Man möchte fast wetten, dass sich in den vermischten Nachrichten der Pariser Tageszeitungen von 1900 eine Meldung über ein Dampferunglück mit Verletzten findet.“ Dies erfährt man natürlich so nicht in der Enzyklopädie, da diese sich mehr auf den heutigen Interpretationsstand verlässt und sich auf vorsichtige Mutmaßungen beschränkt, ohne selbst neue eigene Entdeckungen zu präsentieren. In diesem Sinne ergänzen sich also Analysen einzelner Textstellen, Figurenkonstellationen oder „dunkler“ Stellen von Interpreten und die einzelnen Stichwörter der Enzyklopädie. Natürlich werden aber auch Theorien, geschichtliche Ereignisse, soweit sie im gesamten Werk Prousts eine Rolle spielen, angeführt. Leider hat der Herausgeber darauf verzichtet, die Auswahlkriterien für die einzelnen Stichwörter zu erläutern. Dies ist schade, da man so nicht nachvollziehen kann, weshalb die eine Person oder ein Ort enthalten ist und eine andere Person oder ein anderer Ort dagegen nicht. Diese Auswahlkriterien böten dem Leser eine Orientierung, auf welche Fragen er eine Antwort bekommt und welche er selber zu lösen versuchen muss. So würde Jochen Schmidt, der im letzten Jahr mit seinem Buch „Proust lesen“ Aufsehen erregte, auf die meisten seiner nach jedem Lesetag notierten Fragen keine Antwort bekommen. Dies liegt aber weniger an der Enzyklopädie als an dem spezifischen Schmidt’schen Interesse. Jeder, der sich diesem großen Werk aussetzt, aber auch der interessierte und erfahrene Leser wird angesichts der Stoffmassen und Personen- und Themenvielfalt und der vielen textinternen Verweise und Bezüge sowie der heute doch fremden Epoche, in der die Handlung angesiedelt ist, gerne auf ein solches Kompendium zurückgreifen. Zwar gibt es bereits Bücher, die beispielsweise über die realen Vorbilder für die Romanfiguren informieren, aber sie sind sowohl vom Anspruch als auch von der Ausführung her überhaupt nicht vergleichbar. Für denjenigen Leser, der die „Suche nach der verlorenen Zeit“ bereits gelesen hat, sind die einzelnen Artikel sozusagen die „Madeleine“ des kleinen Marcels und er kann ebenso wie dieser in die vergangene Zeit versinken. Denjenigen Lesern, die die Lektüre der „Recherche“ noch vor sich haben, können beide Bücher eine vorzügliche Hilfe und Stütze bei dem Leseabenteuer sein. Mehr kann man von Büchern, zumal von Sekundärliteratur, nicht erwarten und in dieser Kategorie zählen sie zum Besten, was zurzeit zu haben ist.

Titelbild

Marcel Proust: Enzyklopädisches Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung.
Herausgegeben von Luzius Keller.
Übersetzt aus dem Französischen von Melanie Walz.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009.
1018 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783455095616

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Michael Maar: Proust Pharao.
Berenberg Verlag, Berlin 2009.
80 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783937834344

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