Auf der anderen Seite der Scheibe

„Am Beispiel des Hummers“ stellt David Foster Wallace die unappetitliche Frage nach dem Wert des Tieres auf unserem Teller

Von Meike BlatzheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Meike Blatzheim

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Farbfoto auf der ersten Seite des neuen Männer-Kochmagazins „Beef!“ zeigt ein niedliches, schwarzweiß geflecktes Kaninchen. Ein Kaninchen, das an den Hinterpfoten baumelt und dem auf dem nächsten Bild bereits das Fell abgezogen wird. Das also soll es sein, was den kochbegeisterten Mann anspricht? Die Rezensentin schaudert und denkt, dass es nicht zu gewagt sei, davon auszugehen, dass die meisten von uns liebend gern vergessen, was da eigentlich vor ihnen auf dem Teller liegt. Unangenehme Fragen stellt niemand gern, wenn der Magen knurrt und der Braten auf dem Tisch dampft. Wenn bloß nicht einer wie David Foster Wallace vorbeikommt und einem den Appetit verdirbt.

Das Maine Lobster Festival, von dem Wallace 2004 im Auftrag des amerikanischen Magazins „Gourmet“ berichtet, will Freizeitvergnügen und kulinarisches Volksfest sein. Da gibt es „Hummerbrötchen, Hummeromelett, Hummer sautiert, Hummersalat Down East, Hummerbisque, Hummerravioli sowie frittierte Hummerklößchen“ und sogar „rote Hummermützen mit lustig an Drahtspiralen wippenden Scheren“. Wenig Spaß haben dabei nur die Hummer. Denn die landen im World Largest Lobster Cooker. In Detailansicht nähert sich Wallace den unauffälligen Hauptdarstellern dieses lärmenden, stinkenden, fetttriefenden Spektakels, die „auf der anderen Seite der Scheibe nur zusehen können, auf wen der Finger zeigt“. Den Hummer betrachtet er lexikalisch, ordnet ihn biologisch ein (er gehört zu den Zehnfußkrebsen), berichtet von seiner Lebensweise, von Hummerfleisch als Armeleuteessen, vom Unterschied zwischen Hardshell- und Softshell-Lobster. Vor allem aber stellt er sich die Frage, ob es eigentlich „in Ordnung“ ist, „aus reiner Freude am Genuss ein fühlendes Wesen in einen Topf mit kochendem Wasser zu werfen“. Und ist damit bei einer der bioethischen Grundfragen angelangt, die sich angesichts eines jeden Weihnachtsbratens aufdrängen sollten, tatsächlich aber selten gestellt werden.

Das Abrutschen ins ‚Gutmenschentum‘ scheint bei einem so heiklen Thema beinah unvermeidlich – dass die Rezensentin Wallaces Argumentation dennoch folgt, ist seiner feinen Ironie und der distanziert-sarkastischen Erkundung des Trubels geschuldet. David Foster Wallace wäre nicht er selbst, wenn er sich ungebrochen zum Anwalt einer Sache machen würde. Statt PETA-Sticker mit dem Aufdruck „Gekocht werden tut weh“ zu tragen, räsoniert er lieber über Ästhetik, Genuss und Moral. Es bleibt genügend Raum für Zweideutigkeit, um seinen Essay auch ganz anders lesen zu können. Und schließlich, so Wallace, gebe es „selbst für einen noch so interessierten Reporter vor Ort Fragen, die er seinen Mitmenschen nicht mehr zumuten sollte“.

Die deutsche Ausgabe des Textes, im Arche Verlag erschienen, ist ebenfalls eine Feinschmeckeredition: nicht gerade eine große Portion, aber exquisit. Als schmales Bändchen kommt das Buch daher, auf den großzügig gesetzten Seiten bleibt viel weiße Fläche. Was im Original zwanzig Druckseiten beansprucht, zieht sich in der Übersetzung über knappe achtzig, die trotzdem in einer halben Stunde gelesen sind. Die Rezensentin greift daher lieber gleich zur englischsprachigen Sammlung „Consider the Lobster“, die auf 350 Seiten neben dem Titeltext weitere Wallace-Essays versammelt – und zum (vegetarischen) Abendbrot.

Titelbild

David Foster Wallace: Am Beispiel des Hummers.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay.
Arche Verlag, Hamburg 2009.
80 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783716026113

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