Denn er ist mein!

Rüdiger Görner präsentiert „Schillers Apfel“

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im November 1966 hat die BILD-Zeitung Friedrich Schiller mit einer reißerischen Schlagzeile als Zechpreller entlarvt. Angeblich hatte ein Rechtsanwalt aus Itzehoe alte Rechnungen entdeckt, aus denen hervorging, dass Schiller im Jahr 1805 insgesamt 67 Liter edlen Wein zum Preis von 52 Reichstalern gekauft, aber nie bezahlt hatte. Aufgrund von dieser Kriminalisierung des großen Dichters wurde die Redaktion mit Briefen von empörten Lesern so eingedeckt, dass sie sich zu folgendem Kommentar veranlasst sah: „Wie ein Mann sind die BILD-Leser aufgestanden, um Deutschlands Dichter-Idol Friedrich von Schiller (1759-1805) zu verteidigen.“ Vier Schüler aus Bremen nutzten Schillers angebliches Vergehen clever für eigene Zwecke und schrieben: „Wenn Schiller vergessen hat zu zahlen, ist es auch sicherlich nicht so schlimm, wenn wir ein paar Zeilen aus seiner ,Glocke‘ vergessen.“ Dieser Vorgang stellt einmal mehr unter Beweis, dass der Dichter aus Marbach bei den Deutschen als beliebtester Klassiker fungiert und dass früher zahlreiche Schüler-Generationen selbst seine längsten Balladen auswendig lernen mussten.

Ein weiterer Beweis: Im Jahr 2005, anlässlich von Schillers zweihundertsten Todestag, ließ es sich der Deutsche Taschenbuch Verlag nicht nehmen, den Schriftsteller in einer ansprechend gestalteten Broschüre zu feiern, die über die Buchhandlungen kostenlos verteilt wurde. Gleich zu Beginn der Schrift bekennt Marcel Reich-Ranicki empathisch: „Ich liebe Schiller“, und auch Peter Härtling lässt wissen, dass ihn der Dichter seit seiner Schulzeit fesselt: „Über Briefe kam ich zu Schillers Prosa, seinen Erzählungen, seinen historischen und philosophischen Schriften und geriet aus einem rhetorischen Raum in den andern. Das Pathos, das die Phantasie mitreißt und trägt, weicht einer beredten Klarheit, die dem Verstand klärend wohl tut.“ Das Heft weist die Leser schließlich auch darauf hin, dass Äpfel „in Schillers Leben immer wieder Akzente“ setzten. Schiller und seine Äpfel haben es auch Rüdiger Görner so sehr angetan, dass er der Literatur über Schiller, die 2009 anlässlich seines 250. Geburtstags massenhaft erweitert wurde, ein weiteres Buch hinzugefügt hat.

Görner, Professor of German Literature und Gründungsdirektor des Centre for Anglo-German Cultural Relations am Queen Mary College an der University of London, rechnet sich offensichtlich ebenfalls zu Schillers Fan-Gemeinde. Er möchte den Gedanken des Dichters nachgehen, unternimmt den Versuch, diese zu zu spitzen und „auf Bilder aus dem Lebensumfeld Schillers“ zu verweisen. Immer wieder fügt er in seine Ausführungen kleine Szenen ein, mit denen er das Leben des Dichters veranschaulichen möchte.

Ausgehend von der unbestrittenen These, dass Schiller „der Dichter der Freiheit“ war, stellt sich Görner die Frage, wie frei der Literat selbst war, den er als „intellektuellen Provokateur“ sieht. Er möchte nachweisen, dass bei Schiller „alles Denken […] zur Versinnlichung“ drängt, deren Symbol der „Apfel des Dichters“ sei.

In Umwandlung des Verses von Johann Wolfgang Goethe aus dem Epilog zu Schillers „Lied von der Glocke“: „Denn er war unser!“ stellt Görner seinen Lesern den Schiller vor, den er sich zurechtgelegt und in Besitz genommen hat. Die Zeile: „Denn er ist mein!“ könnte man ihm jedenfalls gut in den Mund legen; sie würde als Motto zum Buch passen. Offensichtlich hat Görner seinen Schiller gern und wiederholt gelesen und öfters Aufführungen von seinen Stücken besucht. Er berichtet von den Auswirkungen. Zum Beispiel sah er „Die Räuber zum ersten Mal als Schüler.“ Da Karl Moor von Raimund Harmsdorf gespielt wurde, stellte er sich danach „Karl Moor immer auch als Seeräuber vor.“ Görner spielt auf verschiedene Anekdoten aus Schillers Leben und auf Ereignisse an, die ihn mit dem Dichter verbinden, belässt es dabei stets bei knappen Hinweisen. Wer erwartet, dass er irgend eine Schiller-Episode oder einen Aspekt aus dessen Werk gründlich darstellt und erläutert, wird enttäuscht. Denn der Verfasser springt – mal im Plauderton, mal in apodiktischen Sätzen – von einem Gedanken zum anderen. Der Leser vermisst bei dem Buch einen strukturierten Aufbau und er sucht vergebens nach einem thematischen Schwerpunkt, den der Autor verfolgt.

Görner montiert Zitate aus Schillers Werken sowie von anderen Literaten über Schiller in seine Darlegungen ein, wobei er besonders gern Äußerungen von Franz Kafka, Hugo von Hofmannsthal, Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche und Theodor W. Adorno, aber auch von Joseph von Eichendorff, Bertolt Brecht, Friedrich Dürrenmatt, Thomas Mann und anderen aufgreift. Freilich fehlt auch bei diesen Zitaten eine vertiefende Erläuterung sowie die Darlegung des Ziels, auf das sie hinführen sollen.

Assoziativ folgt ein Gedanke dem anderen. Görner verfolgt offenbar kein erkenntnisleitendes Interesse, sondern greift von den Figuren aus Schillers Theaterstücken über seine Anthropologie bis zu den Alltagsgegenständen und Kleidungsstücken des Dichters – in diesem Zusammenhang hat es ihm vor allem sein Handspiegel angetan – alles auf, was ihm aus welchen Gründen auch immer in den Sinn kommt. Fragen werden aufgeworfen, ohne dass auch nur ansatzweise nach einer Antwort gesucht wird: „War Don Carlos ein Don Juan der Macht?“, „Wie autokratisch ist das Ideal? Wer oder was herrscht, wenn das Ideal regiert?“, „Ist Schillers Werk der faule Apfel in der Schublade der Moderne? Jeder Moderne?“, „welcher geistige Erregungsgrad muss erreicht sein, bei welcher intellektuellen Temperatur beginnt eine Idee zu fermentieren?“, „Müdigkeiten kommen im Werk Schillers so gut wie nicht vor. Wie aber steht es um uns? Sehen wir nicht oft genug mitten in unserer Getriebenheit die Uhren gähnen? Leidet etwa unsere überreizte Zeit an Müdigkeit?“

Persönliche Erinnerungen werden erzählt, die Görner mit Schiller verbinden, etwa die Besuche von Aufführungen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten oder die Besichtigungen des Denkmals in Marbach oder des berühmten Goethe-Schiller-Denkmals in Weimar. Neue Erkenntnisse werden dem Leser dabei allerdings nicht vermittelt. Denn aufgrund der Flut an Sekundärliteratur über Friedrich Schiller dürfte inzwischen sicherlich jeder Bildungsbürger wissen, dass die Figuren des Weimarer Dichter-Denkmals nicht nach den realen Körpergrößen der beiden Männer gestaltet wurden.
Ab und zu stellt Görner auch Thesen auf wie diese: „Wo Schiller die Tiefe der Geschichte sah, erkennen wir nur noch Abgründe.“ Aber mögen diese auch noch so tiefgründig formuliert sein, sie werden eben nicht im Zusammenhang erläutert, sie werden einfach irgendwo in den Text hinein geflickt.

Auch mit SchillersWesten und seiner Hose sowie seinem Verhältnis zu den Dingen beschäftigt sich Görner und kommt in diesem Fall zu der Schlussfolgerung: „Nein, Schiller war kein Dingdichter.“ Denn eigentlich passten zu Schiller, „dem Erzidealisten, dem geistigsten der Weimarer Geister, keine Dinge.“ Görner nimmt Schillers Gitarre und die faulenden Äpfel aus und stellt sich die Frage, „ob Tells Pfeil auch einen von Fäulnis bereits befallenen Apfel getroffen hatte“.

Natürlich darf auch die berühmte Äußerung nicht fehlen, die Goethe zweiundzwanzig Jahre nach Schillers Tod gegenüber seinem Gesprächspartner Eckermann gemacht hat, wonach er angeblich das Geheimnis lüften konnte, dass sein Dichterfreund faulende Äpfel in der Schublade seines Schreibtischs als Stimulanz einsetzte. Die Luft, „die Schillern angenehm war“, sagte Goethe, „drückte mich wie Gift“. Ihn überschlich ein „Übelbefinden“, das sich so steigerte, dass er „einer Ohnmacht nahe war.“ Eben dieser Geruch, so erfuhr Goethe von Schillers Frau, hätte diesem so wohl getan, dass „er ohne ihn nicht leben und nicht arbeiten könne.“ Leider untersucht Görner auch diese Apfelgeschichte nicht näher, obwohl sie doch den Titel für sein Buch abgegeben hat, er zitiert sie nur und nimmt ab und zu auf sie Bezug. Einmal liest man beispielsweise diese Aussage, unvermittelt eingeschoben zwischen Ausführungen zu der „Braut von Messina“ und dem Bericht über den aus Italien „eigens eingeflogenen […] legendären Wallenstein-Regisseur“, der „in einem orientalisch benannten Hörsaal in London über sich selbst und Schiller“ spricht und, da er erkältet ist, „näselt, hüstelt (und) verstimmt“ wirkt: „Dieses Theater um Schillers Schädel – als wäre sein Werk ein Golgatha. Die Fäulnis seines Apfels war schmackhafter. Das Lied von der Glocke lesen bis einem das Lachen vergeht; nicht aber das Hören und Sehen.“

Die letzte der achtzehn kurzen Szenen zu einem Stück über Schiller, die Görner entworfen hat, schließt das Buch über „Schillers Apfel“ ab. Sie enthält einen inneren Monolog, den August Wilhelm Iffland spricht, der, „von Wallenstein-Requisiten umgeben“ und „scheinbar sich abschminkend“, an einem 10. November vor einem Spiegel sitzt. Der Monolog endet mit den Worten: „Das Theater ist leer. Ich sollte es geschlossen lassen bis zum nächsten 10. November. DAS NATIONALTHEATER BLEIBT BIS AUF WEITERES NUR AN SCHILLERS GEBURTSTAG GEÖFFNET. DER WALLENSTEINENDE DIREKTOR. Es wäre zum Lachen, immerhin.“ Der Leser fragt sich, worin der Lachanreiz bestehen soll und denkt angestrengt nach, immerhin.

Damit sind wir zum Schluss ebenfalls beim Positiven angelangt. Zweifellos ist der bibliophile, mit einem Lesebändchen versehene und in einen (mit einer Fotografie von Schillers Schreibtisch versehenen) Schuber eingelegte Band überaus ansprechend aufgemacht: Die großen Buchstaben sind gut lesbar, die zahlreichen Abbildungen (Schillers Handspiegel, seine Weste und Kniehose, sein Stirn- oder Kopfwehband und sein Riechfläschchen, das Goethe- und Schiller-Denkmal in Weimar, Christophine Reinwalds Apfelstudie sowie andere Zeichnungen und Fotografien) bieten einen anschaulichen Blickfang. Auf dem Buchumschlag wurde als reizvolles Lese-Lockmittel der rote Apfel aufgeklebt, den Schillers Schwester Christophine Reinwald 1805 gemalt hat. Wer also Görners durch verschiedene Erlebnisse geprägtes Schillerbild kennen lernen möchte, kann in den Apfel beißen. Er wird aber feststellen, dass es sich nicht um Evas Apfel handelt.

Titelbild

Rüdiger Görner: Schillers Apfel. Szenen, Gedanken und Bilder.
Limitierte und nummerierte Auflage in 900 Exemplaren in bedrucktem Schuber.
Berlin University Press, Berlin 2009.
142 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783940432674

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